: Eine Liebeserklärung an den Leipziger Bahnhof-betr.: "Tempo und Stillstand", taz vom 27.4.91
betr.: „Tempo und Stillstand“,
taz vom 27.4.91
Der Beitrag von Christof Boy erweckte bei mir den Wunsch, die nie vergessene Erinnerung an meine erste Begegnung mit Europa in Europa, dem Leipziger Bahnhof, wieder wachzurufen.
Wir, eine Gruppe von Studenten aus Afghanistan, kamen an einem dieser typischen Septembertage des Jahres 1982 direkt vom Flughafen Berlin-Schönefeld auf dem Leipziger Bahnhof an. Seitdem habe ich nicht aufgehört, diesen Bahnhof zu mögen, dieses mein Tor zu Europa.
Schmutzig, schön, schwarz, großzügig und erhaben bot er sich mir an. Ich war von Europa nicht enttäuscht, obwohl der Bahnhof mir wie das verlassene Paris vorkam, aber eben Paris. [...]
Die Leute auf dem Bahnsteig schauten uns an, auch lächelten sie uns an, wir lächelten zurück. Der schwerbepackte, für ein ganzes Leben gedachte Koffer ließ sich auf einmal leicht, fast unbemerkbar tragen, so ergriffen war ich von der Größe und Schönheit dieses Werkes, des Leipziger Hauptbahnhofes. [...]
Ich war endlich in Europa angekommen. Ein paar Schritte, und man ist durch die Bahnhofshallen durch und im Stadtzentrum. Die Züge nach Dresden fuhren von den Hallen aus gesehen auf den rechten Bahnsteigen ab und die Züge nach Jena, wo ich jetzt lebe, auf den ganz linken Bahnsteigen und das bei über 20 Bahnsteigen. So konzentriert habe ich Europa nicht wieder gesehen.
Der Luxus, den sich der Leipziger Hauptbahnhof leistete, war überdurchschnittlich: Zeitkino und Blumenverkauf gab es, und ich hätte dort sogar Zeitungen in deutscher, französischer, englischer, russischer, italienischer Sprache kaufen können. Sogar telefonieren war vom Bahnhofspostamt leicht und schnell möglich.
Das erste Mal habe ich auf dem Leipziger Hauptbahnhof erlebt, daß man Zeit auch nur in Minuten ansagen kann. Dann nämlich, wenn die Stimme, nach deren Urheber ich immer vergebens gesucht habe, eine Verspätung ankündigte: „Der ...Zug hat 120 Minuten Verspätung!
[...] Faieq Zarif, Jena
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