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„Wir sind alle völlig normal“

■ Zehn Jahre nach dem Tod von Bobby Sands im IRA-Hungerstreik haben sich die Haftbedingungen in den nordirischen Knästen verbessert/ Von Ralf Sotscheck

Belfast, 5. Mai 1981: Der IRA-Gefangene Bobby Sands stirbt am 66. Tag seines Hungerstreiks gegen die Haftbedingungen. Seine Beerdigung wird zu einer massiven Demonstration der Solidarität mit den Gefangenen. Über 100.000 Menschen begleiten den Sarg von seinem Elternhaus zum Milltown- Friedhof in West-Belfast. Die Unterstützung der Gefangenen reicht inzwischen weit in das bürgerlich-demokratische Spektrum hinein. Doch die weltweiten Appelle und Demonstrationen machen keinen Eindruck auf die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher. Nachdem neun weitere Hungerstreikende gestorben sind, brechen die Gefangenen ihre Aktion nach 217 Tagen am 3. Oktober 1981 ab.

Der Hungerstreik war der letzte verzweifelte Protest gegen die Haftbedingungen, die in den Jahren zuvor kontinuierlich verschärft worden waren. Am 1. März 1976 hatte die britische Regierung den politischen Status für die Gefangenen der Irisch- Republikanischen Armee (IRA) und der Irischen Nationalen Befreiungsarmee (INLA) abgeschafft. Die Gefängnisse explodierten. Zunächst saßen die Gefangenen nur mit einer Decke bekleidet in ihren Zellen, weil sie die Gefängnisuniform ablehnten. Zwei Jahre später begannen 350 Gefangene einen „Waschstreik“. Sie wuschen und rasierten sich nicht mehr, schmierten die Exkremente an die Wände und gossen Urin unter den Zellentüren hindurch.

Viele Gefangene standen im Herbst 1980 vor dem physischen und psychischen Zusammenbruch. Ende Oktober begannen deshalb sieben IRA-Gefangene einen Hungerstreik, dem sich im November drei Frauen im Armagh-Gefängnis anschlossen. Als die Hungerstreikenden im Dezember ein kritisches Stadium erreichten, zeigte sich das Nordirland-Ministerium scheinbar zum Einlenken bereit: Den Gefangenen wurde ein 34seitiges Papier vorgelegt, das einige Vorschläge zur Verbesserung der Haftbedingungen enthielt. Nach Beratungen mit dem Kommandanten der IRA-Gefangenen, Bobby Sands, brachen die Gefangenen am 18. Dezember den Hungerstreik ab.

Schon bald zeigte sich jedoch, daß die britische Regierung die Kriminalisierungspolitik nicht beenden würde. Deshalb entschlossen sich die Gefangenen zu einem zweiten Hungerstreik. Die Gefangenen hatten diesmal eine andere Taktik gewählt. Um den Druck auf die britische Regierung langsam zu steigern, trat zunächst nur Bobby Sands in den Hungerstreik. In bestimmten Zeitabständen schlossen sich weitere Gefangene an. Die Unterstützung der Gefangenen im In- und Ausland war enorm. Bei einer Nachwahl für das britische Unterhaus wurde Bobby Sands am 40. Tag seines Fastens zum Westminster-Abgeordneten gewählt. Zwei weitere IRA-Gefangene, von denen sich einer im Hungerstreik befand, gewannen die Wahl zum Dubliner Parlament. Dennoch blieb Thatcher unnachgiebig.

Wie kein anderes Ereignis seit Ausbruch des Konflikts vor über 20 Jahren hatte der Hungerstreik die internationale Aufmerksamkeit auf Nordirland gelenkt. Die Unterstützung der IRA in den katholischen Gettos war beträchtlich gewachsen. Darüber hinaus hatte Sinn Fein, der politische Flügel der IRA, zum ersten Mal bei Wahlen unter Beweis stellen können, daß die Partei eine ernstzunehmende politische Kraft geworden war. Aber hat der Hungerstreik auch zu besseren Haftbedingungen im elektronischen Fort „Long Kesh“ bei Belfast geführt?

„Die Situation hat sich geändert“, sagt der IRA-Mann Eugene McCormick, der wegen Polizistenmordes eine lebenslängliche Strafe absitzt. „Wir haben unsere eigene Kleidung, bekommen Briefe und Pakete und müssen nicht arbeiten.“ Die Besuchszeiten werden locker gehandhabt, die offiziell erlaubte halbe Stunde oft überschritten. „Allerdings haben einige von uns noch nicht den vollen Strafnachlaß gewährt bekommen“, sagt McCormick. Die Behörden haben jedoch im vergangenen Jahr damit begonnen, Lebenslängliche für ein paar Tage in die Freiheit zu entlassen: vier Tage im Sommer, sechs zu Weihnachten. Voraussetzung ist, daß sie mindestens dreizehn Jahre abgesessen haben. „Das bringt dich außer Fassung“, sagt Eamon McDermot, der im vergangenen Dezember zum ersten Mal seit über dreizehn Jahren für ein paar Tage freikam. „Als Lebenslänglicher denkst du nicht mehr an draußen.“ Bisher sind noch alle Gefangenen nach ihrem „Kurzurlaub“ wieder nach Long Kesh zurückgekehrt, weil sie wissen, daß die Konzessionen für ihre Mitgefangenen andernfalls gestrichen würden. „Die Probeentlassungen sind ein strategischer Schachzug der Behörden“, glaubt McDermot. „Damit soll die Unterstützung der Gefangenen von außen unterminiert werden.“

In Long Kesh sitzen 400 Gefangene. Etwa 260 gehören republikanischen Organisationen an, vor allem der IRA. Die restlichen Insassen sind Loyalisten — protestantische Paramilitärs, die loyal zur britischen Krone stehen, jedoch nicht unbedingt zum Parlament. Über die strenge Segregation der Gefangenen wachen 1.200 Wärter. Sie gehören mit über 20.000 Pfund (zirka 60.000 D-Mark) Jahresgehalt zu den Spitzenverdienern in Nordirland. Geld ist der einzige Anreiz für diesen Job. „Das sind alles Terroristen“, sagt ein Wärter, der anonym bleiben will. „Ich kann sie nicht reformieren.“ Die Situation habe sich zwar inzwischen etwas entspannt, doch in den vergangenen fünf Jahren hat ein Dutzend Wärter Selbstmord begangen, acht weitere wurden von der IRA getötet. „Falls ich nicht mit den Gefangenen kooperiere, spricht sich das draußen schnell rum, und eines Tages finde ich eine Bombe unter meinem Auto“, erzählt der Wärter.

Ray McCartney, der an dem ersten Hungerstreik teilgenommen hatte, ist heute IRA-Kommandant in „Long Kesh“. „Die Gefängnisverwaltung kennt unsere Struktur im Knast und handelt entsprechend“, sagt er. „Wenn sie etwas von den Gefangenen wollen, wenden sie sich an mich. In der Realität — wenn auch nicht offiziell — ist Long Kesh ein politisches Gefängnis.“ Der Wärter stimmt ihm zu: „Die Paramilitärs kontrollieren das Gefängnis hundertprozentig. Ich kann mit ihnen nur durch ihren Kommandanten reden.“ Bildungskurse spielen hier eine große Rolle.

In den vergangenen fünf Jahren haben siebenundzwanzig Gefangene einen Universitätsabschluß erreicht. Neben den offiziellen Kursen gibt es auch Klassen, die von den Gefangenen selbst organisiert werden. „Auf großes Interesse stoßen die Kurse in Politik und irischer Sprache“, erzählt McCartney. Die Zellentüren stehen meistens offen. Lediglich nach den Mahlzeiten werden sie ein bis zwei Stunden abgeschlossen.

„Fernseher, Schallplatten, Umschluß — das alles schafft eine Illusion von Freiheit“, sagt Denis McClean. „Aber das Grundlegende ist doch, daß wir eingeschlossen sind. Wir haben keine Freiheit.“ McClean ist Loyalist. Er wurde für drei Morde, einen Totschlag, unerlaubten Waffenbesitz und Verschwörung zu 400 Jahren Knast verurteilt. „Bei guter Führung muß ich nur die Hälfte absitzen“, lacht er. Zwischen den Gefangenen beider Lager gibt es keine Annäherung, die Trennung bleibt auch im Gefängnis bestehen. Dennoch haben auch die Loyalisten vom Hungerstreik der Republikaner profitiert und Hafterleichterungen erhalten. Die Republikaner erkennen an, daß es sich bei den Loyalisten ebenfalls um politische Gefangene handelt — und umgekehrt. „Die Leute glauben, wir sind alles Psychopathen hier in Long Kesh“, sagt McClean. „Aber das stimmt nicht. Die Mehrheit ist völlig normal. Ohne den politischen Konflikt wäre keiner von uns hier drin.“

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