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Verschlingung einer Zivilisation

■ Norberto Prestas „Malinche“ in der Oldenburger Kulturetage

Kann ich denn eine Geschichte erzählen, die keinen Anfang hat? Eine Geschichte aus fünfhundert oder tausend Jahren, von Europäern und Azteken, von Cortez, dem spanischen Eroberer, von Montezuma dem Aztekenkönig, von Malinche, von Martin, von... halt nicht so schnell!

Martin ist Straßenverkäufer. „Lei-Lei-La, prrrt, hi-hi...“, so hockt er, sich wiegend zu kubanischer Musik aus dem plärrenden Cassetenradio, bietet seine Ware aus dem Bauchladen feil. „Kreuze, Madonnen, Heiligenfiguren, Biiibeln!“ Götzen christlicher Kultur in den Gossen Buenos Aires'. Jeden Tag kommt ein Gringo vorbei, Lambert. Auch er kauft nichts, kommt nur um Martins Geschichte zu hören. „Hier bin ich heute abend, weil Lambert gesagt hat, daß die Leute zahlen würden, um mich zu hören. Verrückt!“

Lambert Blum, Regisseur, und Norberto Presta, Schauspieler und Autor, haben Martin auf die Bühne gebracht. „Malinche“ heißt das Stück, in dem alle diese Geschichten zusammenfließen. Die Premiere am vergangenen Donnerstag in der Kulturetage zeigte uns Norberto Presta in einem kleinen Feuerwerk aus Tanz, Schauspiel, Groteske; einer Collage; leise oft, liebenswert, hier ein kichernder Knaller, da ein erschreckender Donner.

In dem Stück geht es um die Konfrontation zweier Kulturen, um Unterwerfung. In der Zusammenarbeit von Blum und Presta ging es um Befruchtung, um Verstehen. Wer anders könnte diese Geschichte erzählen, wenn nicht ein Argentinier, Norberto Presta? „Er lieferte das Material in der Improvisation, sich selber, die Tänze“, erklärt Blum. „Zusammen haben wir nach einer Sprache für das Publikum gesucht“, ergänzt Presta.

Martin ist der Mann, der Seinen Bruder Jorge unwissentlich an den argentinischen Capitän Cortez der Militärregierung in den siebziger Jahren verraten hat. Martin ist Malinche, die ihr aztekisches Volk an den spanischen Eroberer Cortez verraten hat. Ihm wurde sie 1519 als Geschenk überreicht. Malinche wird getauft, ist nun Christin, hat einen Namen, Marina, hat Teil an der Macht der Unterwerfer, denen sie selbst entgeht.

Martin erinnert in seiner Schizophrenie tanzend, wimmernd, lachend, singend, mit schnalzendem Blick kokkettierend die Geschichte seines Volkes. Die Geschichte der Prostitution einer Kultur, die nur so überleben kann, wie Malinche: einen Namen bekommen, nicht mehr ein Niemand sein und untergehen, bloß vergewaltigt, nein, wenigstens die Insignien der Herrschenden tragen. Den Rosenkranz. Das Kofferradio. Das Zuckerbrot lockt nicht, denn schließlich ist sie doch die Unterworfene. „Gringo, mach das Licht aus. Ey, dunkler! „Nur intim mit sich selbst in der Dunkelheit sucht Martin seinen Bruder Jorge, der Klang der alten Flöte steigt auf, verloren, aus dem Nichts der Erinnerung; die Flöte ist Montezuma, die Flöte ist Jorge, all das Verlorene, Vergangene. Wird grell zerschlagen vom Licht, zerbrüllt von der Musik Philip Glass' — Gegenwart. Tanz, Cortez kommt, der Rosenkranz geißelt die Flöte, der Körper verheddert sich zwischen Perlengeschnür und Kreuz; Verschlingung einer Zivilisation. Da wäre noch die Geschichte zu erzählen von Quetzcoatl, der gefiederten Schlange, die über das Meer zurückkehren sollte, um Montezuma abzulösen, um den Menschenopfern ein Ende zu machen. Da wäre noch die Geschichte zu erzählen von Cortez, der 1519 kam, der Quetzcoatl glich. Da wäre noch die Geschichte zu erzählen von Cortez, der 1970 kam, als es wieder Menschenopfer gab, auf elektrischen Stühlen. Da wären noch viele Geschichten zu erzählen, jeden Tag, in den Gossen einer Kultur, die das andere, das Grauen dahin verbannt, ausgrenzt. Geschichten, die keinen Anfang haben, nur eine Gegenwart. Marijke Gerwin

“Malinche“von Norberto Presta und Lambert Blum im Freiraum Theater Bremen am 10./11./12.Mai jeweils um 20.30 Uhr.

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