: GONZALO ROJAS
■ "Lateinamerika, Gedichte und Erzählungen 1930 - 1980"
Von Santiago, der „Hauptstadt von Ich-weiß-nicht-was“, angeekelt, der Surrealistengruppe „Mandragora“, der er angehört, entfremdet, schließlich von der „lächerlichen und illusorischen geisteswissenschaftlichen Fakultät“ der chilenischen Hauptstadt enttäuscht, zog sich Gonzalo Rojas in den vierziger Jahren in die Kordilleren des El Orito zurück und unterrichtete dort Bergarbeiter und ihre Kinder, „Analphabeten, die mir so viel beibrachten wie die Sterne“. In einem skizzenhaften Selbstporträt, das er im Juni 1988 einer Lesung seiner Gedichte an der FU Berlin voranstellte, kam er auf dieses für ihn zentrale Erlebnis zurück und fügte lächelnd hinzu: „Meine Dichterfreunde in Santiago nannten mich den ,Verrückten, der Berggipfel braucht‘.“
Der 1917 in Lebó/Chile geborene Gonzalo Rojas kennt äußeres Exil (in den Jahren Pinochets) und dieses innere Exil, das er „intraexilio“ nennt. Dieses allein sei gut für den Dichter, meint er, der sich der „Generation von 38“ zurechnet. Deren Mitglieder zählten damals 21 Jahre und schworen sich, „Chile zu entprovinzialisieren“ und die lateinamerikanische Poesie zu erneuern — zu einer Zeit, als der spanische Bürgerkrieg die Welt in Atem hielt, die Volksfront in Chile Triumphe feierte und vier chilenische Dichter — „unsere großen Vulkane“ (Rojas) — die literarische Szene beherrschten: Gabriele Mistral (geb. 1889), Vicente Huidobro (1893), Pablo de Rokha (1894) und Pablo Neruda (1904).
Huidobro, der Kontakt zu Breton, Gris, Ernst und Arp hielt, war für den 20jährigen Rojas eine Vaterfigur: „Er war derjenige, der am meisten Freiheit in meinem Kopf versenkte.“ Aber sehr schnell begriff Rojas, daß die ästhetische Lage der Dinge in Paris mit der Lage der Dinge in Santiago nichts gemein hatte. Von da an verstand er sich nicht nur als lateinamerikanischer Dichter, sondern auch als Mittler, der zwischen 1958 und 1962 eine Reihe von in Lateinamerika inzwischen legendär gewordenen Begegnungen unter allen Schriftstellern des Kontinents initiierte. In Concepcion, wo Rojas unterrichtete und Schriftstellerwerkstätten einrichtete, trafen zum ersten Mal Borges, Vallejo und Paz mit den Jüngeren, mit Marquéz, Cortázar, Rulfo und Fuentes zusammen. Hier entstand im Dialog — und lange bevor die Literatur Lateinamerikas bei uns ein Begriff wurde — das (Selbst-)Bewußtsein von der Imaginationskraft dieser Literatur und von der Realität dieses Kontinents. Rojas selbst, der Traditionen bewußt, fast allen lateinamerikanischen Autoren freundschaftlich verbunden, sagt von sich, daß er seit langem keinen Vater mehr suche: „Ich bin kein genealogischer Dichter, aber ich glaube an die Genealogie der Labyrinthe, an die Genealogie der Geologie, und ich liebe die Steine.“ Sein Universum werde von drei Flüssen gespeist, „dem Numinosen im Gefühl vor dem Heiligen; der Erotik und der ganzen Dialektik der Liebe; dem unmittelbaren Zeugnis des unmittelbaren Lebens“. Dazu gehöre auch die Übung des politischen Zeugnisses, „aber ganz ohne Weisung“. Joachim Sartorius
Bibliographischer Hinweis: Einige Gedichte in Lateinamerika, Gedichte und Erzählungen 1930-1980 (Hrsg. José Miguel Oviedo, Frankfurt1982). Ein Gedichtband in deutscher Sprache steht immer noch aus.
Alle Gedichte auf dieser Seite sind Erstveröffentlichungen und wurden von Dieter Masuhr aus dem Spanischen übertragen.
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