"Der Nigger soll auf die Knie"

■ Sie werden in der S-Bahn tätlich angegriffen, wagen sich abends nicht mehr auf die Straße, sind in ihren eigenen Wohnungen nicht mehr sicher. AusländerInnen, vor allem Schwarze, erleben in der Ex-DDR...

„Der Nigger soll auf die Knie“ Sie werden in der S-Bahn tätlich angegriffen, wagen sich abends nicht mehr auf die Straße, sind in ihren eigenen Wohnungen nicht mehr sicher. AusländerInnen, vor allem Schwarze, erleben in der Ex-DDR Übergriffe von existenzbedrohender Härte. Doch nur noch selten macht ein Fall Schlagzeilen wie der zweier Namibier, die von deutschen Jugendlichen nach einer Messerstecherei in der Disco aus dem 4.Stock geworfen wurden.

Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz für Leute wie Nelson: nach sechs Uhr abends nicht mehr in die U- oder S-Bahn steigen. An diesem Samstag war er drei Stunden zu spät. Es war neun Uhr und dunkel, als er am S-Bahnhof Bernau in Ostberlin in den Zug stieg, um nach Schöneberg in Westberlin zu fahren. Er hatte die drei anderen Fahrgäste im Abteil per Blickkontrolle für okay befunden, sich hingesetzt und seinen Stundenplan für das nächste Semester gelesen. Und die zwölf Jugendlichen, die drei Stationen später in Buch zustiegen, sahen „so total normal“ aus, daß er sich wieder in seine Papiere vertiefte.

Es gibt ein Protokoll von diesem Vorfall — das liegt bei der Polizei. Und es gibt einen Alptraum — der ist in Nelsons Kopf. „Haste 'ne Zigarette?“, hatte eines der Mädchen plötzlich gesagt und ihm die Papiere aus der Hand gerissen. Er stand auf, um die verstreuten Zettel aufzuheben. Ein paar Fäuste stießen ihn wieder auf die Bank. „Bleib sitzen, Nigger!“ Schläge ins Gesicht und ein anderer spuckt, ein dritter hat auf einmal einen Schlagstock in der Hand, die anderen feuern an. „Der Nigger soll auf die Knie.“ Nelson erzählt das mit leiser Stimme, als ob es, wenn überhaupt, nur er selbst hören sollte. Mehr will er dazu nicht sagen, nur noch so viel, daß er keine Angst verspürte, sondern „fast blind war vor Wut“. Wut, die implodierte, weil jeder Widerstand eines Schwarzen gegen zwölf, vom eigenen Machtgefühl besoffene Weiße in einer fahrenden S-Bahn fatale Folgen haben kann. So warfen sie Nelson erst aus dem Zug, als der in Karow hielt — die Papiere flogen hinterher.

Das erste, was er zu Hause gesagt habe, sagt seine Frau Katrin, war: „Hier kann man nicht mehr leben.“ Drei Tage später war er endlich bereit, zur Polizei zu gehen. Ein Beamter in Schöneberg nahm den Vorfall auf — korrekt und durchaus engagiert. Aber die Anzeige muß er nach Pankow zu den Kollegen weiterleiten, „und bis die Akte wieder hier ist, dauert das drei Wochen“.

„Man checkt die Augen der Leute“

Nelson und Katrin — er Sudanese, sie Deutsche — sind im Juli 1989 von Freiburg weggezogen. Die Wahl fiel nicht zuletzt auf West-Berlin, weil sich da, wie Katrin sagt, im Gegensatz zu Freiburg „kein Schwein umdreht, wenn ein gemischtes Paar durch die Straßen läuft“. Und weil in West-Berlin, im Gegensatz zu Freiburg, sagenhaft viele Ausländer leben und das Andersaussehen hier normaler ist als anderswo. Was wohl bis zur Maueröffnung auch stimmte. Bis dahin haben sie Nelsons Freunde und Landsleute in Ostberlin besucht, wann immer sie Lust hatten. Die einzige Einschränkung waren die Einreisevorschriften. Seit der Maueröffnung gehen Nelsons Freunde im Osten abends nicht mehr aus dem Haus. Bei Besuchen im Westteil der Stadt bleiben sie über Nacht, wenn es später als sechs Uhr wird. Seit jenem Samstag abend fährt Nelson überhaupt nicht mehr nach Ostberlin und benutzt abends nicht mehr die S-Bahn. Für das Paar bedeutet das eine zusätzliche Belastung im Alltag, denn nur Katrin hat ein Auto und einen Führerschein.

Die Fahrtwege zu organisieren, ist eine Sache. Mit der Wut, der Angst und der Ohnmacht fertig zu werden, eine andere. An diesem Samstag in der S-Bahn nicht dabeigewesen zu sein, „das werfe ich mir immer wieder vor“. Katrin malt sich manchmal aus, einen der Jugendlichen in die Finger zu kriegen. „Und dann mit zwölf Leuten um ihn rum, damit der einfach mitkriegt, wie das ist, dieses Ohnmachtsgefühl.“ Bekannte, ebenfalls ein gemischtes Paar, haben ihre beiden Söhne in einen Selbstverteidigungskurs gesteckt. „Ohne mich“, sagt Nelson. Er hätte in jener Nacht durchaus zwanzig Leute zusammentrommeln, in den Osten zurückfahren und die Jugendlichen suchen können. „Aber was soll das? Zurückschlagen hat überhaupt keinen Sinn.“ Fürs erste heißt es, vorsichtig sein. Noch vorsichtiger als bisher. Von wegen neue Freiheit nach dem Mauerfall.

Die ständige Verteidigungshaltung haben beide längst verinnerlicht, doch es zehrt an den Kräften und an den Nerven. Vor jedem Besuch in einer Kneipe oder einem Restaurant das gleiche, schon fast unbewußte Ritual. „Man checkt die Augen der Leute — und man weiß sofort, ob man bedient wird oder nicht.“ Wenn man nicht bedient wird, „dann steht man auf und geht“, sagt Nelson. Ab und an kommt immer wieder der Punkt, an dem man nicht einfach geht. Nelson und Katrin tanzen leidenschaftlich gerne. Vor drei Monaten, auf Kurzurlaub in Freiburg, haben sie auf einer Begründung bestanden, als ihnen der Türsteher einer Disco den Zutritt verwehrte. Statt einem standen plötzlich drei Body Guards vor ihnen, die sie vor den Augen anderer Passanten zusammenschlugen. Der Arzt diagnostizierte bei Nelson Rippenprellungen und eine Knieverletzung, bei Katrin Prellungen am ganzen Körper. Weil sich wenigstens eine Passantin als Zeugin zur Verfügung stellte, läuft gegen die Mitarbeiter der Diskothek jetzt ein Verfahren wegen Körperverletzung.

Nelson hat in der Berliner S-Bahn keine äußeren Verletzungen davongetragen — aber die vier Minuten zwischen Buch und Karow wiegen für ihn ungleich schwerer. Er unterscheidet zwischen Angriffen, bei denen er selbst entscheiden kann, ob er sich wehren will oder nicht; und Angriffen, die sich allein gegen seine Existenz richten. „Der Türsteher in Freiburg“, sagt Nelson, „hat seinen Job gemacht — eben bestimmte Leute nicht reinzulassen. Die Jugendlichen in der S-Bahn kannte ich nicht, die kannten mich nicht, ich wollte nichts von ihnen.“ Die Beschimpfungen sind das Schlimmste gewesen. „Die gingen“, glaubt Katrin, „gegen den Kern seines Selbstwertgefühls.“

„Wir sehen uns existentiell bedroht“

Nelson und Katrin haben eine einjährige Tochter. Der kleinen Maha ist auf den ersten Blick nicht anzusehen, daß ihr Vater Schwarzer ist. In Zeiten, in denen ein gemischtes Paar darüber froh sein muß, fragt man sich, ob das der richtige Platz zum Leben ist. Aber die Ausweichmöglichkeiten sind dürftig. Frankreich? Italien? „Da ist es auch nicht besser“, sagt Nelson. Holland vielleicht, sagt Katrin. Nelson, der aus politischen Gründen aus dem Sudan geflohen ist, hat eine Odyssee durch mehrere Länder hinter sich. In Ägypten und in der Türkei hat er sein Studium abgebrochen und ist gegangen, weil der Rassismus gegen Schwarze dort genauso zum Alltag gehört wie in Europa. Noch einmal auswandern will er nicht. „Man kann ja nicht ewig weglaufen.“

Dem Überfall auf Nelson folgte ein paar Tage später die Nachricht, daß zwei sudanesische Freunde in ihrer Ostberliner Wohnung von Skinheads überfallen wurden. Sie warfen die Fensterscheiben ein und versuchten, die Tür der Parterrewohnung einzutreten, was ihnen nicht gelang. Der Fall ging nicht durch die Presse, wohl aber der zweier Namibier, die vor wenigen Tagen in Wittenberge von deutschen Jugendlichen nach einer Messerstecherei in einer Diskothek aus dem vierten Stock geworfen wurden. Der Punkt sei erreicht, sagt Katrin, „wo wir uns hier existentiell bedroht sehen.“

Sie wollen sich beide gegen den Rassismus in Berlin politisch engagieren. Dieser Entschluß hilft gegen die eigene Hilflosigkeit — an der alltäglichen Bedrohung, an den alltäglichen Vorsichtsmaßnahmen, den Blickkontrollen in den Restaurants, ändert das nichts. „Man muß“, sagt Katrin, „den Rassismuszu einem politischen Skandal machen.“ Das ist schwierig in einer Stadt, deren weiße Mehrheit sich an die Zeitungsmeldungen über rassistische Angriffe genauso gewöhnt hat, wie an die Radiodurchsagen über Verkehrsstaus. An jenem Samstag abend, als ihn die deutschen Jugendlichen in Karow aus der S-Bahn geworfen hatten, verlangte Nelson von der Zugabfertigerin, die S-Bahn anzuhalten, damit er die Polizei holen könne. Sie sei nicht befugt, den Zug anzuhalten, und überhaupt, sagte die Frau, „sowas passiert hier öfter“. Andrea Böhm