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Dem harten Wind des Marktes zum Trotz

Das letzte DDR-Vehikel rollt in eine Marktlücke/ Der „Unimog“ im Kleinformat, bei der Wäsche eingelaufen  ■ Von Thomas Schiller

Waltershausen. Im Jahre 1 nach der Einheit ist der gesamte Automobilbau der DDR der Marktwirtschaft erlegen. Der gesamte? Nein, denn ein kleines, widerstandsfähiges Wägelchen trotzt dem harten Wind des Marktes — seit der Hannover-Messe mit hoffnungsvollen Perspektiven. Es heißt „Multicar“ und wird von ostdeutschen Autofans gern als die DDR-Spielart des „Unimog“ bezeichnet — vielleicht bei der Wäsche etwas eingelaufen und daher im Trabi-Format. Doch das unscheinbare Vehikel ist außerordentlich vielseitig. Oft mußte der „Multicar“ in der DDR das wegschaffen, was die Laster der Typen Robur und IFA, W 50 oder L 60 liegenließen, oder wo der barocke Zweitakt-Bulli „Barkas“ nicht hinkam. Ob zur Stadtreinigung, bei Baubetrieben oder Kohlenhändlern: Der „Multicar“ hat seinen festen Platz im ostdeutschen Straßenbild — wenn auch meist nur ganz weit rechts. Ältere Exemplare wurden auf Landstraßen zum Verkehrshindernis: Tempolimit 52.

Auf diese Geschwindigkeit ist auch das spartanische Führerhaus ausgelegt. Die kantige Kabine mit der großen Scheibe ist alles andere als aerodynamisch. Warzenförmige Blinkleuchten und nach außen ragende Türscharniere trotzen dem Luftwiderstand. Der „Multicar“ ist nicht schön, sondern praktisch. „Im nächsten Jahr kommt eine neue Kabine“, kündigt die Marketing-Abteilung des Unternehmens an.

Träger für Geräte aus halb Europa

Der „Multicar“ ist dann runderneuert. Wo früher ein Triebwerk aus dem IFA-Kombinat tuckerte, arbeitet mittlerweile ein VW-Diesel mit 54 PS. Auch die Palette der möglichen Aufbauten hat sich seit der Öffnung des Marktes vervielfacht. Schneefräsen aus Italien, Kehrmaschinen und Bagger aus Großbritannien, westdeutsche Ladekrane oder spanische Müllsammelaufbauten sind nur einige der Geräte, die vor, auf und hinter dem „Multicar“ angebracht werden können. „Der ,Multicar‘ erhält seinen Wert erst über seine Aufbaugeräte“, erklärte ein Werksprecher. „Multitalent“ nennt es der Prospekt. Das Basisfahrzeug mit 2,5 Tonnen Nutzlast kostet rund 40.000 Mark. Kurzes oder langes Chassis stehen zur Wahl. Auf Wunsch gibt es auch Allradantrieb.

Von den 100 monatlich produzierten „Multicars“ bleiben immer noch etwa 80 in Ostdeutschland. Zur Zeit wird ein Servicenetz im Westen aufgebaut, bei LKW-Händlern, Baumaschinen-Vertretungen und Raiffeisen-Genossenschaften. Im Westen rollt der „Multicar“ als Serienfahrzeug in eine Marktlücke. Noch hat das Werk freie Kapazitäten — in Waltershausen wird kurzgearbeitet, die Auftragsdecke reicht für vier bis sechs Wochen. Doch seit der Hannover-Messe sehen die Thüringer einen Silberstreif am Horizont. Nicht nur in Westeuropa gibt es neue Interessenten für den „Multicar“. „Ganz konkrete Absatzlinien“, so ein Sprecher der „Multicar“ GmbH, zeichnen sich im arabischen Raum und in Afrika ab.

Nach dem Abgesang auf den DDR-Automobilbau rollt im thüringischen Waltershausen, ein paar Kilometer östlich der Wartburg, der „Multicar“ in seine kapitalistische Zukunft. dpa

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