: Die irischen Traveller wehren sich
Von Staat, Kirche und seßhafter Bevölkerung im Stich gelassen, greifen sie zur Selbsthilfe ■ Aus Dublin Anne Byrne
14,2 Prozent der irischen Traveller sterben, bevor sie ein Jahr alt sind. Über ein Drittel erreicht das 15. Lebensjahr nicht. Im Landesdurchschnitt liegen die Zahlen dagegen bei 2,3, bzw. 3,4 Prozent. Dieser Vergleich spricht Bände. Die Lebensbedingungen der Traveller — meist fehlt es auf den Halteplätzen an fließend Wasser, sanitären Einrichtungen und Strom — passen nicht zu dem Image einer christlichen Wohlfahrtsgesellschaft.
Vorurteile und Gleichgültigkeit unter der seßhaften Bevölkerung sind das größte Hindernis für Veränderungen. Darüber hinaus erlaubt diese Einstellung es den Politikern, tatenlos zuzusehen und die so dringend notwendigen Einrichtungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Unterkunft auf die lange Bank zu schieben. Es gibt nicht einmal Gesetze, die Traveller vor Rassismus und Diskriminierung schützen. Die katholische Kirche, eine einflußreiche Institution in der irischen Gesellschaft, schweigt zu dem Thema. Die Traveller selbst haben angesichts des täglichen Überlebenskampfes kaum Zeit und Kraft, für eine Verbesserung ihrer Lage einzutreten. Dennoch liegt gerade hier die größte Hoffnung auf Veränderungen. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Traveller zu Gruppen zusammengeschlossen, die über ihre Rolle in der irischen Gesellschaft laut nachdenken, Programme zur Erhaltung ihrer kulturellen Identität und ihres Lebensstils entwickeln und auf überregionaler Ebene für die Umsetzung dieser Programme kämpfen.
Obwohl die Traveller eine klar umrissene ethnische Minderheit in Irland darstellen, sind sie — anders als Roma und Sinti — mit hoher Wahrscheinlichkeit einheimisch. Mit der seßhaften Bevölkerung teilen sie Nationalität, Rasse und Religion. Ihr Ursprung ist schwer nachzuweisen, doch es ist anzunehmen, daß sie als ethnische Gruppe nicht über Nacht aufgetaucht sind, sondern sich über Jahrhunderte entwickelt haben. Möglicherweise stammen sie sogar von der Urbevölkerung Irlands ab: Linguisten haben Übereinstimmungen der Traveller-Sprache „Shelta“ mit der Sprache des vorkeltischen Irland nachgewiesen. Zulauf erhielten die Traveller vermutlich durch die umherziehenden Dichter und Musiker, die in der keltischen Literatur erwähnt sind, und mit Sicherheit durch die zahlreichen Kleinbauern, die im 17. Und 19. Jahrhundert gewaltsam von ihren Parzellen vertrieben und dadurch zu einem nomadischen Leben gezwungen wurden.
Heute gibt es etwa 23.000 Traveller in Irland, doch ihre Zahl steigt aufgrund von Frühehen stetig. Drei Viertel aller Traveller sind unter 25 Jahre alt. Die erweiterte Familie bildet — wie bei Roma und Sinti — eine wirtschaftliche und soziale Einheit. Traveller leben am Rande der Gesellschaft und halten sich durch Schrott- und Pferdehandel, Betteln und Sozialhilfe über Wasser. Dabei werden sie ständig mit Polizeischikane und tätlichen Angriffen aufgebrachter Bürger konfrontiert, die um den Erhalt der Immobilienpreise in der Nachbarschaft von Traveller-Halteplätzen besorgt sind.
Die Vorurteile der Gesellschaft spiegeln sich auch in den Schulen wider. Lediglich ein Drittel der Traveller-Kinder ist auf staatlichen Schulen in die Klassen intergriert, der Rest ist in „Sonderklassen“ isoliert. Da Kultur und Lebensweise der Traveller im Ausbildungsplan für LehrerInnen nicht auftauchen, fehlt es oft am notwendigen Verständnis. Kein Wunder, daß von den zwölfjährigen Traveller-Kindern nur noch ein Sechstel die Schule besucht.
Es gibt in Irland nur eine einzige Grundschule, die speziell für Traveller-Kinder eingerichtet wurde: St. Kieran's in Bray, südlich von Dublin. Obwohl die Schule dem Bildungsministerium untersteht, erhält sie in keiner Form eine besondere Unterstützung. Dem Lehrpersonal werden keine Fortbildungskurse angeboten, die ihnen die Aufgabe erleichtern würden. In Eigeninitiative haben die sechs Lehrkräfte den offiziellen Unterrichtsplan auf die Bedürfnisse der Kinder zugeschnitten. Die Schule respektiert und fördert die Kultur und Lebensweise der Traveller, setzt sich aktiv für ihre Selbstbestimmung ein und erkennt vor allem die Traveller als ethnische Gruppe an, die erhalten bleiben muß. Mit dieser Einstellung steht die Schule in Irland jedoch allein auf weiter Flur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen