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ZWISCHEN DEN RILLEN

■ Juuzen statt Jodeln: Der kleine Unterschied

Jetzt, da er hinuntergestiegen ist, kann ich seine Stimme in der Stille hören. Sie trägt von einem Ende des Tales bis zum anderen. Er ruft ohne Anstrengung; seine Stimme ist wie ein Jodler, sie bewegt sich wie ein Lasso. Sie macht kehrt und kommt zu ihm zurück, nachdem sie den Hörenden mit dem Rufenden verbunden hat. Sie stellt den Rufer in den Mittelpunkt. Seine Kühe antworten darauf ebenso wie sein Hund. Eines Abends fehlten zwei Kühe, nachdem wir sie alle im Stall angekettet hatten. Als er zum zweiten Mal rief, antworteten sie tief aus dem Wald, und ein paar Minuten später — die Nacht brach gerade herein — waren sie an der Stalltür.“ So beschreibt John Berger in seinem Essay Der Geschichtenerzähler das Heimrufen der Tiere im französischen Jura. Diesen Lockruf gibt es auch in anderen Bergregionen, etwa im Muotatal, im Kanton Schwyz in der Zentralschweiz. Dort wird er „Juuz“ oder „Jüüzli“ genannt und gehört zur Familie der Jodel.

Wie Erasmus Betschart auf der Wasserberg- Alp seine Kühe in den Stall lockt und wie er sie beim Melken durch sein Singen beruhigt, ist unter anderem auf einer Platte der Reihe „Le chant du monde — Der Gesang der Welt“ zu hören. Auf dieser Veröffentlichung wird zum ersten Mal nicht der „polierte Jodel der Jodlerklubs“ (Plattentext) präsentiert, wie er sich im Zuge der aufkommmenden Gesangsvereine im 19. Jahrhundert herausgebildet hat, sondern das „Juuzen“ in seinem ganz normalen sozialen Kontext. (Im Begriff „juuzen“ steckt das Wort „jauchzen“ oder „juchzen“, „jodeln“ kommt von „jolen“). Im Unterschied zum gebildeten „Jodellied“ handelt es sich bei diesem „Naturjodel“ um einen textlosen Gesang, der „sinnlose“ Sprachsilben vokalisiert und durch den rasanten Dauerwechsel von der Bruststimme zur Kopfstimme seine charakteristischen Eigenschaften erhält.

Der Jodel, der in Europa hauptsächlich in den deutschsprachigen Gebieten auf der Alpennordseite vorkommt, war früher eng verbunden mit der bäuerlichen Arbeit. Beim Grasmähen wurde „gejuuzt“ und beim Holztransport, bei der Arbeit in der Küche und im Stall; und am Feierabend vor dem Haus, bei Familientreffen und Tanzveranstaltungen auf dem Hof oder im Wirtshaus. Der mündlich tradierte Jodel zeigt starke regionale Eigenheiten. Die relativ lange Isolation des Muotatal von der Außenwelt hat die Herausbildung eines einzigartigen Vokalstils begünstigt, der für unsere heutigen geschulten Ohren fast „archaisch“ klingt. Die Volkssänger lassen sich nicht in das Korsett des temperierten Tonsystems zwängen, sondern singen „falsch“, d.h. sie nutzen einen gewissen Freiraum, den die Tongebung zuläßt. Was wie eine Unsicherheit der Intonation wirkt, ist in Wahrheit ein kleiner Akt von Freiheit und Improvisation. Derselbe Jodel, gesungen von derselben Person, klingt immer anders. Tonsprünge werden verändert und Verzierungen variiert. Das macht vor allem das zweistimmige Jodeln zu einer spannenden Angelegenheit: Die 70jährige Suter Emmi aus dem Muotataler Hinterthal singt dermaßen „verdrääte Jüüzli“, daß die zweite Stimme Schwierigkeiten beim „Abnää“ — beim Begleiten — hat, was sich verkompliziert, wenn noch eine dritte Stimme dazukommt, die sich dann allerdings, um die Komplexität nicht zu überdehnen, auf zwei Töne im Baßbereich beschränken muß.

Ähnliche Funktionen wie das Jodeln nahm im Zusammenhang der bäuerlichen Arbeit und Freizeit auch das Alphorn ein. Beim Alpaufzug wies es den Kühen den Weg. Heute ist es — aufgabenlos — nur noch ein Musikinstrument, das zum eigenen Vergnügen oder für Touristen geblasen wird.

„Büchel“ heißt ein kleines Alphorn aus der Zentralschweiz, das wie eine große Holztrompete aussieht. Eine Anzahl Stücke auf dieser Platte zeigen, daß sein Klang sowie der ruhige Habitus seiner Musik dem der „Jüüzli“ sehr nahe kommt. Zufall?

„Jüüzli — Jodel du Muotatal/Suisse“, Le chant du monde, LDX 274 716

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