Frust der Wähler ist Lust der Sozis

Lasche Stimmung kurz vor der Hamburger Bürgerschaftswahl am Sonntag/ SPD-Sieg scheint gewiß/ Gerüchte über rot-grünes Anbandeln hinter den Türen/ Viele Nichtwähler erwartet  ■ Aus Hamburg Florian Martens

Hamburg im Mai 1991 — eine lähmende Spannung liegt über der Stadt. Der Frühling steht in voller Blüte, doch ist es erheblich kälter als sonst um diese Jahreszeit. Auch der Wahlkampf zur 14. Nachkriegs- Bürgerschaft, der jetzt seinem heißen Finale zusteuern müßte, kann die Menschen nicht erwärmen.

Politikmüdigkeit, Verdrossenheit über links, rechts und die da oben — das Wahlvolk ist frustriert wie lange nicht. Eine Verzweiflung über das Verharren der Stadtpolitik im Hier und Jetzt hat sich breitgemacht — die Menschen glauben nicht mehr daran, mit ihrer Stimme etwas ändern zu können. Zu spüren bekommen das diesmal alle Parteien: Die Protestparteien Reps, PDS und AL ebenso wie die etablierten Rathausparteien SPD, CDU, FDP und GAL. Die Partei der Nichtwähler, seit 1972 schier unaufhaltsam auf dem Vormarsch, könnte am Sonntag an die großen Erfolge der 60er Jahre anknüpfen, wo sie mit über 30 Prozent nur knapp hinter CDU und SPD lag.

Noch vor drei Jahren war das Bundesland Hamburg eine strukturkrisengeschüttelte Schrumpftown am Rande Deutschlands, am Rande der Europäischen Gemeinschaft. Heute hocken zahllose Baukrane, die sperrigen Insignien der Immobiliengeier, in Erwartung fetter Beute über den Kupferdächern und Backsteintempeln jener nordeuropäischen Metropole, der Wirtschafts-, Flüchtlings- und Immobilienexperten eine überaus aufregende Zukunft voraussagen. Noch vor drei Jahren rechneten die städtischen Planer mit einem Rückgang der Bevölkerung von 1,6 auf 1,3 Millionen Einwohner im Jahr 2010. Heute jedoch kalkuliert man mit 1,8 bis zwei Millionen; allein im letzten Jahr wuchs die Bevölkerung um 50.000 Menschen.

Die Politik, die sich in Zeiten der Krise aufs Sparen und Schrumpfen beschränkt hatte, weiß, daß sie mit neuen, modernen Konzepten die Stadtzukunft entwickeln müßte, doch sie scheint wie gelähmt. In den nächsten paar Jahren werden, so oder so, Struktur- und Investitionsentscheidungen fallen, die das Leben in Hamburg auf Jahrzehnte erheblich beeinflussen: Wird die Stadt unter einer Verkehrslawine unerwarteten Ausmaßes zusammenbrechen? Werden Hunderttausende Flüchtlinge aus Osteuropa und dem Süden kommen? Werden Mieten und Gewinne weiter explodieren?

In den Planungsstäben des Rathauses und der gewaltigen Behörden (allein die Baubehörde hat mit 6.000 Bürokraten einen Apparat weit größer als die gesamte EG-Agrar-Bürokratie) herrschen Aufgeregtheit und Ratlosigkeit. Hamburg geht es gut — aber immer mehr Menschen schlecht. Die Facharbeiterlöhne sind mit Abstand die höchsten der Republik, gleichzeitig erreicht die Zahl der Obdachlosen und Wohnungssuchenden neue Rekordstände. Die Arbeitslosigkeit wurde in den letzten Jahren so kräftig abgebaut wie nirgendwo sonst in Deutschland. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Armen. Rund zehn Prozent der Bevölkerung leben inzwischen an und unter der Armutsgrenze.

„Alles Anpasser“, quiekt das Schwein

„Es blüht“, verkündet trotzig ein Wahlplakat der regierenden Sozialdemokraten. Ein anderes droht ganz unverhohlen: „Wir machen weiter!“ Die mitregierenden Wirtschaftsliberalen halten es mit der sinnigen Parole „Auf Erfolgen aufbauen“ und demonstrieren dies mit ihrem Wahlkampfsymbol: ein kleiner gelber Schlepper, der einen unförmigen roten SPD-Tanker auf Kurs bringt. Die CDU hat Gewaltiges vor. „Endlich handeln!“, brüllt sie von ihren Wahlwänden und meint damit vor allem: „Hafenstraße räumen!“ Auch die wiederauferstandene und trotz linker Traditionspflege in Richtung ökologische Bürgerrechtspartei mutierte Grün-Alternative-Liste setzt auf Signale der schlichten Art. „Trinkwasser? Aus der Elbe!“ oder „Hafenstraße? In Hamburg!“, heißt es da. Der kleine systemoppositionelle Fundi-Klüngel, der die Hamburger Grünen bei ihrem Marsch in die Regierungsfähigkeit (Koalitionsangebot an die SPD) verlassen hat und unter der Fratze eines rosa Schweinchens (Wahlkampfsymbol) als Alternative Liste zur Wahl antritt, quiekt rotzfrech: „Alles Anpasser!“

Der Frust der Wähler stimmt die regierende sozialliberale Koalition froh. Noch enttäuschter als mit der Regierungspolitik, die von 60 Prozent der HamburgerInnen als schlecht und unzureichend empfunden wird, ist das Wahlvolk mit der Opposition. Die CDU hat sich mit Kohls Steuerlüge, einem völlig überzogenen Law-and-order-Wahlkampf und dem geübten Wahlverlierer Hartmut Perschau (der schon dreimal den kürzeren zog) selbst aus dem Rennen gekickt. Sie dürfte eines der schlechtesten Ergebnisse seit 20 Jahren einfahren. Auch die Grünen sind gebeutelt. Hamburgs WählerInnen, die Rot-Grün seit 1982 in schöner Regelmäßigkeit satte rechnerische Mehrheiten besorgten und jedesmal von Fundi-Verweigerung und SPD-Betonköpfen gleichermaßen gelinkt wurden, trauen der nach Streit und Spaltung wiederauferstandenen und geläuterten GAL noch nicht wieder über den Weg.

Liberales Hoffen auf den Wechselwähler

Unsicherheit herrscht auch bei der FDP, obwohl sie noch bei der Bundestagswahl am 2.Dezember in Hamburg mit 12 Prozent der Stimmen ein sensationell gutes Ergebnis einfuhr. Bei letzten Meinungsumfragen landete sie freilich nur knapp oberhalb der Fünf-Prozent-Hürde. Dennoch geben sich die Elb-Liberalen intern optimistisch. Man hofft auf Wechselwähler von der CDU und hat in den letzten Tagen eine großangelegte Schlußoffensive zur Verhinderung der absoluten Mehrheit der SPD eröffnet, die im auf Ausgleich angelegten Hamburg durchaus zieht. Kaum verhohlene Siegeszuversicht dagegen bei der SPD. Nach Jahrzehnten der Zitterwahlen, in denen man zweimal sogar von der CDU überholt wurde, es per Nachwahl aber immer wieder zurück auf die Regierungsbänke schaffte, kann diesmal eigentlich kaum etwas passieren. Sogar die absolute Mehrheit der Sitze scheint für viele nicht ausgeschlossen.

Um dieses Ziel zu erreichen, kämpft die SPD mit Haustürbesuchen und Hunderttausenden von Telefonanrufen um die Mobilisierung ihrer Stammwählerschaft. Die einzige, wenngleich ganz geringe Gefahr: Wenn die GAL aus dem Stadtparlament fliegt und FDP wie CDU überraschend gut abschneiden, könnte es eine schwarz-gelbe Wende geben. Viel wahrscheinlicher ist jedoch die Fortsetzung der sozialliberalen Koalition, die freilich kaum als „Modell für Deutschland“ taugt.

SPD-Kanalarbeiterfilz und die Wirtschaftsliberalen haben sich solide hassen gelernt — allein der Mangel an Alternativen hält das rot-gelbe Bündnis zusammen. Gerade dieser Haß hat hinter den Kulissen die alten Betonmauern zwischen SPD und Grünen bröckeln lassen. „Wenn wir erst mal verhandeln“, so bedeutete einer der führenden Sozialdemokraten in einem rot-grünen Schnuppergespräch hinter verschlossenen Türen, „dann werden sich alle wundern, wie schnell wir uns einig sind.“ Innerhalb der SPD läuft bereits eine Leihstimmen-Kampagne für die Grünen.

Eine rot-grüne Koalition direkt nach dem 2. Juni ist dennoch überaus unwahrscheinlich. Wenn, dann könnte sie Mitte der Legislaturperiode nach einem gezielten Bruch mit der FDP herbeigeführt werden. „Die GAL muß erst mal im Parlament ihre neue Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen und in der Öffentlichkeit Vertrauen zurückgewinnen. Vorher läuft nichts“, verlautet es aus der Führungsetage der Hamburger Sozialdemokraten.