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Vaterland und Gummibären

■ Harry Hund startet seine »Ost+Berlin+West-Tournee«

Beim Lesen der Pressemitteilung erfaßte mich spontane Zuneigung zu Harry. Von einer Biographie war dort die Rede, die ein packendes Einzelschicksal verhieß. Das Kind der Aktion Aufschwung West »setzt sich ein für ein besseres, ein anderes Leben«. Die Alternativen sind ihm bald keine mehr, er mutiert zum Yuppi. Sucht neue Partnerschaften, entbrennt in Liebe zum Computer, zum Cabriolet. Verendet an der Zukunft im Berlin des Jahres 2000, das Olympische Feuer wird sein Grab.

Bei alledem, so der Text, gehe es nicht darum, unbewältigte Vergangenheit auf die Bühne zu zitieren. Wichtig sei die Erinnerung an eine uneingelöste Zukunft. Ich gebe zu: Mich als Ostler reizt die Utopie ja immer noch. Zumal ich in diesem Fall sogar die Mittel ihrer Verdeutlichung als durchaus tauglich empfand: »Will Harry Hund sein Vaterland begreifen, dann bedient er sich des Absurden.« Den Tourneedaten entnahm ich, daß »Der Mann, der den Aufschwung verpaßte« nach seiner Premiere im Hasenheidenhinterhof vor allem den Osten bespielt. Zwei Vorstellungen in Biesenthal gar.

Im Geheimen bewunderte ich ihn schon, den Harry. Sollte er es geschafft haben, den inzestuösen Zirkel des Westberliner Off-Theaters zu durchbrechen? Sollte er gefunden haben, woran niemand mehr glauben mochte: den Weg zu einer »Gesamtdeutschen Identität«? Warum, so sagte ich mir, sollte der Schlüssel nicht im Kabarett liegen, war doch das Absurde Geburtshelfer der Einheit. Vor meinem inneren Auge entstand das Bild einer großartigen Zukunft für Harry. Empfänge über Empfänge, die die Erziehungsminister der Fünf Neuen ihm zu Ehren geben würden. Er wird an ihren Schulen einen Crashkurs halten. Motto: Wie kann ich trotz aller Ideale erfolgreich sein? Analog den Stadien, die der Fötus im Mutterbauch durchwächst — das Leben auf Erden im Schnelldurchlauf — zeigt Harry unserer neudeutschen Jugend ihre westliche Ahnenreihe an Archetypen auf. Aus dem drangsalierten Buben wird der mit dem Joint in der Hand an seiner Selbstbefreiung saugende Jüngling. Dieser kommt ins ausreisewillige Alter, doch wohin mit ihm? Er ist ja schon im Westen. Nach Neuseeland, zu den Antipoden und den Schafen! Diese Phase durchleidet er ergebnislos und kommt nun endlich beim positiven Denken an. Jetzt kann er sich Computer, Auto und Geliebte leisten. Dieser Harry, liebe Lehrer, ist ein leuchtendes Beispiel dafür, daß die sogenannten Alternativen den kreativen Nährboden für unsere dynamische Gesellschaft bilden. Harry setzt sich stellvertretend für unsere Zöglinge allen Irrungen und Wirrungen aus, kann sie so vor eigenen Problemen schützen. Wir bezahlen Harry gut und sparen so die enormen Folgekosten, die durch sozialsektiererisches Verhalten der uns Anvertrauten erwachsen würden. Das sonst eher selbstgenügsame Off- Theater zeigt sich endlich einmal von seiner besseren, seiner therapeutischen Seite. Es kehrt zu seinen Wurzeln in der griechischen Polis zurück. Großartig!

Mit dieser Vision im Hinterkopf mischte ich mich unter das Premierenpublikum. Harry kommt, stellt sich als von modernster Technik durchdrungener Stadtstreicher vor, trägt alle zivilisatorischen Errungenschaften wie elektrisches Licht, elektronische Klangerzeuger und mechanisches Spielzeug am Mann. Das Werkzeug in der Hand dient ihm als Greifer für Gummibärchen. Harry schleicht auf die Bühne, hängt seine schwarzrotgoldene Ikone auf, ein Stilleben mit Kuckucksuhr. Vor ihr sammelt er die Kraft, sich zu erinnern: behütete Kindheit bis zu jenem Tag, als wer auch immer in wessen Auftrag auch immer der Kleinfamilie das Idol wegschoß. Am Tag, als John F. Kennedy starb, färbt sich der Himmel blutrot. Harry beginnt zu ahnen, daß ihm schwere Jahre bevorstehen. In wenigen Sätzen bewältigt er Kindheit und Jugend, Mama im roten Kostüm hat Papa verlassen, Papa schlägt enttäuscht seinen Erziehungsstil in den Jungen ein. Der fiese große Bruder nutzt unseren Harry aus. Harry löst sich vom Heim und beginnt die Alternativen. Doch an dieser Stelle beginnen Handlung und Spiel sich zu verdunkeln. Statt hart an der Fabel zu bleiben, löste sich der Abend im Nummernprogramm auf. Redundanzen schleichen sich ein, Klischees gewinnen die Oberhand. In selbstzerstörerischer Weise verleugnete der einsame Entertainer immer wieder seinen genialischen Ansatz, bis dieser schließlich bis zur Unkenntlichkeit verkam. Baumgartner

Termine: Fr. 7.6. Club »Schloßstraße 13«, Potsdam; Sa. 8. und So. 9.6. Schützenhaus DASTY, Biesenthal; Fr. 14. - So. 16.6. Studiobühne Friedrichshain, Berlin.

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