: „Es ist alles so arschlos in Hellersdorf“
Jugendliche in einem Ostberliner Neubaubezirk führen ihr Leben in der Beton- und Plattenwüste und haben die Öde im Kopf/ An die Brutalisierung des Alltags haben sie sich fast gewöhnt, an ihre Perspektivlosigkeit noch nicht ganz ■ Aus Hellersdorf Bascha Mika
Am Morgen ist es kalt
Da kommt der Willibald
Er klettert in den Bagger
Und baggert in den Acker
Ein großes tiefes Loch
Was noch?
Dieter Süverkrüpp
Nicht nur ein Loch im Acker, sondern hunderte. Loch an Loch und aus jedem ragt ein Sechsgeschosser: Hellersdorf am Rande von Berlin. Ein ehrgeiziges Neubauprojekt der achtziger Jahre, dessen Fassaden so angenehm einheitlich sind, wie es die Menschen im Arbeiter- und Bauernstaat trotz heftigster Bemühungen der Partei nie wurden.
Verzerrt und verkehrt, so spiegelt sich eines der vielen Würfelhäuser, die sich mal schnurgerade aneinander-, mal verspielt umeinanderreihen, in Andres Sonnenbrille. Darüber dunkle zurückgekämmte Haare, darunter ein Zwei-Tage- Bart: „Ich bin ein Hool. Ich bin weder links noch rechts. Hools sind besser als Skins. Skins sind von Haus aus rechts.“ Weil die Baggerführer in Hellersdorf die überflüssigen Löcher nie richtig zugeschüttet, und was sie aus den Löchern rausholten, nie ganz weggeschafft haben, fällt der Blick aus seinen dunklen Gläsern auf Senken und Höhen, die zwischen den Plattenreliefs entstanden sind. Wo sie nicht in Beton gegossen wurden, glänzt nackter, abgeschabter Boden.
„Ich prügel mich einfach so, aus Spaß, aber nicht politisch.“ Andre tänzelt, die Boxershorts knittern um seine Oberschenkel. „Wenn ich jetzt ab und zu einen hebe...“. „Was? Ab und zu? He, Andre!“ Die Kids, die um ihn herumstehen vor dem Jugendclub Lubminer-Straße, wiehern vor Lachen. Er verzieht den Mund wie Billy Idol. „Wenn ich also jetzt ab und zu einen hebe, dann gibts gleich ‘ne Bombe.“ Die anderen grinsen ihn an. Sie sind keine Hooligans, deren harter Berliner Kern aus Hellersdorf und dem älteren Neubauviertel Marzahn kommt. Aber auf Andre läßt hier niemand was kommen. Der hat ein paar Jahre im geschlossenen Jugendwerkhof gesessen, mit 500 Liegestützen am Tag und jeder Menge Prügel. „Dann wirst du von Haus aus total aggressiv“, findet er und fuchtelt mit dem linken Arm, der rechte steckt in bekritzeltem Gips. „Das ist praktisch so drinnen.“ Gerald nickt ihm zu. Er ist 15, sechs Jahre jünger als der BFC-Hool. Mit anderen seines Alters sitzt er jeden Tag entweder drinnen im Club oder davor auf einer der steinernen Tischtennisplatten, in dem Teil von Hellersdorf mit dem hübschen Namen Kaulsdorf-Nord. Drei Kaufhallen, zwei Bierschenken, zwei Kneipen, zwei Cafés und ein Jugendclub für 20.000 Einwohner.
Die 15-, 16jährigen sind die zweite Generation, die den Club zu ihrem Zuhause gemacht haben. Früher eine der typischen FDJ-Einrichtungen, nach der Wende für einige Monate geschlossen, ist er seit Januar mit neuer Besetzung das einzige, was den Kids bleibt: „Die Gegend hier ist öde, Betonwüste, arschlos hier.“
Leztes Jahr haben sie sich zwischen den Häusern, an einer anderen Tischtennisplatte getroffen, erzählt Cindy. Da waren sie oft bis zu 100, die aus ihren 2,50 mal 3,50 Meter großen Kinderzimmern in den normierten 3-Raum-Wohnungen entkommen wollten. An der „Platte“ haben sie solange „Musik gehört, rumgeraucht und rumgeblödelt“, bis die Nachbarn Terror machten. Nachdem ein ehemaliger Volkspolizist einen von ihnen zusammengeschlagen hat, versuchten sie‘s vor der „Mecke“, einer Gaststätte. Sie wurden weggejagt und waren heilfroh, als der Club wieder aufmachte.
„Schon vor Jahren haben sich die Kids diesen Club erobert, und diesen Raum sollen sie auch behalten. Das hab ich mir auf die Fahnen geschrieben.“ So verkündet die 35jährige Leiterin des Treffs ihr Programm für die, die draußen, zehn Meter weiter, auf der Tischtennisplatte hocken. Der Club ist heute zu. Es wird renoviert, oder besser: Sigrid Willims Mann und einige Jungs schwingen Hämmer und Pinsel. „Siggi“ ist keine große Verfechterin von offener Jugendarbeit. Als alte FDJ-Frau würde sie die jungen Leute lieber „beschäftigen, mit Theater, Sport, oder so“. Aber: „Wir kommen nicht ran. Wir wissen nicht, wie wir sie motivieren können.“ Schulterzucken: „Tischtennis, Sitzen, Musikhören. Immer Rauchen. Inhaltliche Arbeit können meine Kollegin und ich kaum aufbauen. Dann fällt gleich die Jalousie.“
Sie blickt runter auf den gepflasterten Platz, vorbei an verkrumpeltem Gras und einem Baum, der nie was werden wird. Dort stellt Tanja gerade fest: „Müßte mehr Schwung in den Club. Ist alles so arschlos. Die Jungs sitzen immer da und spielen Karten.“ „Ist ja schon gut, daß den ganzen Tag Musik läuft“, ergänzt die 14jährige Peggy matt.
Seit viele der Eltern, die meistens mittlere Kader, Vopos und Leute der Stasi waren, ohne Arbeit sind, ist es für die Kinder in den engen Wohnungen kaum mehr auszuhalten. „Zu Hause ist es so richtig schön aggressiv“, stöhnt Diana. Sie ist 16, hat eine blonde Matte und will Hotelfachfrau werden. Ihr letztes Schuljahr ist bald zu Ende, eine Lehrstelle hat sie noch nicht. Jörn hat zwar eine, aber was er da lernen wird, weiß er nicht so genau. Er linst in seine Bierdose, überlegt lange: „Maschinenbau... irgendwas.“ Und Robert hat nach dreißig Bewerbungen einen Ausbildungsplatz als Kommunikationselektroniker bei Siemens in Berlin bekommen, wo er dann jeden Tag eineinhalb Stunden hinfahren darf.
„Eigentlich will ich unsere alte DDR wiederhaben“, mault Gerald. Er muß nach Dresden umziehen, wo sein Vater, ein ehemaliger Volkspolizist, einen Job kriegt. „Seit der Wende hat sich sowieso nur geändert, was in der Kaufhalle in den Regalen steht“, unterstützt ihn Franziska. „Und geklaut wird mehr, weil viele kaum noch Taschengeld haben und zu Hause mit jedem Pfennig rechnen müssen“, kommt von der 14jährigen Annett neben ihr.
Von den Jugendlichen beklaut werden vor allem die „Fidjis“, die Vietnamesen, von denen sich viele seit der Wende mit schwarzgehandelten Zigaretten durchschlagen. Da steht ein „Fidji“ vor der Kaufhalle, ein paar Kids kommen an, sagen, sie wären von der Polizei, halten ihm irgendeinen Ausweis unter die Nase und nehmen dem Eingeschüchterten sein ganzes Zeug ab. Oder einer lenkt den Schwarzhändler ab und ein anderer bedient sich. Alltag in Hellersdorf.
Alltag auch die Kämpfe zwischen „Linken“ und „Rechten“. „Mein Vater war in der Partei. Aber heute sind ja alle Verfolgte der Stasi“, tönt einer am Rand des Tisches. „Rechts ist Mode! Die Rechten gab's zwar auch früher schon, aber jetzt trauen sie sich.“ Zu diesem Thema haben vor allem die was zu sagen, die sich an die zweite Tischtennisplatte nebenan verzogen haben. „Wir sind die Linken hier“, sagt einer mit langen Haaren, der auf Heavy Metal steht und sich mit entsprechenden Accessoires geschmückt hat. „Wir prügeln nicht, wir schlagen höchstens zurück.“
An dieser Platte sind die Jungs — einsam mit ihrem Bier aber ohne Mädchen stehen sie da — im Durchschnitt ein Jahr älter als die Kids nebenan, die „kleinen Naiven“. Die hier haben den Durchblick. „Ist doch bescheuert, die anderen aufzuhauen, nur weil du auf 'ne andere Gruppe stehst und anders gestylt bist.“ Diese Einsicht wird dem, der es sagt, nicht viel nützen. Er weiß genau, daß er, so wie er aussieht, schneller von Skins aufgemischt wird und dann, meint er, „kannste nichts machen, nur noch zurückschlagen“.
„Heute gehst du einfach zu den Russen, besorgst dir für 250 Mark 'ne Makarow und wenn dir jemand blöd kommt, knallste los.“ Die Bierflasche wird an den Mund gehoben dann über den Kopf geschmissen und landet ein paar Meter weiter im Sand. „Deutsche, bloß nicht. Auf die DDR konnte man wenigstens noch stolz sein.“ „Früher hattest du 'ne Persönlichkeit. Jetzt bist du gar nichts mehr, bist 'ne Assi.“ „Auch hier im Club kannste nur die Schnauze halten. Wenn du jetzt kein Nazi bist, bist du der letzte Dreck. Bleibt nur noch kiffen und saufen.“
Die Kids vom ersten Tisch machen sich auf, um zu sehen, was die im Club beim Renovieren geschafft haben. Auch Siggi, die Treff-Leiterin, ist vom Einkaufen zurück. Zwar fühlen sich die Jungen von ihr gegängelt und ärgern sich, daß der Club so früh dicht macht („In der Woche ist manchmal schon um sechs oder acht Pumpe“) aber eigentlich ist sie ja „ganz okay“, und die Schmiererei in der Clubtoilette, „Siggi, du Kommunistenschwein“, wird jetzt beim Malen verschwinden. Nur die Angst nicht, daß Siggi irgendwann alles hinschmeißt.
Vor einigen Monaten war es fast so weit. Ständig gab's Prügeleien, die Polizei tauchte alle Naselang auf, dreimal wurde in den Club eingebrochen. Einer, der da verkehrte, wurde nach einer Schlägerei wegen schwerer Körperverletzung und versuchten Mordes angeklagt. Inzwischen hat Siggi für die Abendveranstaltungen eine Wachmannschaft engagiert, die den Kids die Waffen abnimmt und diejenigen an die Luft setzt, die Randale machen wollen.
„Geprügelt haben wir uns hier früher auch. Aber das war nie politisch.“ Andre schwärmt von den alten Zeiten und nimmt dazu sogar die Sonnenbrille ab. Nach dem Jugendwerkhof hat er als einer der Clubaktiven den FDJ-Treff geschmissen. „Ich hab da jahrelang Arbeit reingesteckt, sonst gäb's den Club nicht, aber Siggi hat mich rausgeekelt“, und seine Stelle als Sargtischler hat er auch nicht mehr. Fußball ist seine Leidenschaft. Also versammelt er zweimal die Woche die Kids der Lubminer Straße und trainiert sie. Andre setzt die Brille wieder auf, schüttelt den Kopf: „Aber irgendwat haut hier nich hin.“
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