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Jugend, Tod und Verfall

„Schrei in der Stille“ — ein Film von Philip Ridley  ■ Von Gerhard Midding

Das Grauen hat viele Gesichter in diesem Film, und die meisten sind von verführerischer Schönheit. Es sieht aus wie der lustige Funkenflug eines nächtlichen Feuers, wie der silberne Schneeregen nach der pinkfarbenen Explosion eines Atomtests, wie ein schwarzglänzender Cadillac und wie ein kaum Zehnjähriger mit strenger Pagenfrisur und großen Augen.

Diese wißbegierigen Augen werden viel gesehen haben am Ende des Films: eine Mordserie in der Einöde Idahos, den Selbstmord des labilen Vaters, auf den hin die dominierende Mutter in Katatonie verfällt, und die verzweifelte, todgeweihte Liebe des älteren Bruders zu einer Frau, die vielleicht ein Vampir sein könnte. Seth Dove, der halbwüchsige Held von Schrei in der Stille (Originaltitel: Reflecting Skin) ist Zeuge, Mitwisser und am Ende gar Komplize des Schreckens.

Es ist ein böser Film. Man muß lange zurückgehen in der Filmgeschichte — vielleicht bis zu Die Nacht des Jägers —, um auf einen Kindheitsfilm zu stoßen, der sich derart besessen zeigt von den Motiven Tod und Verfall, der derartig abgründig nachvollzieht, wie sich fixe Ideen in Kinderhirnen festsetzen können.

Schon als Autor der brillanten Gangsterbiographie Die Krays hat sich Philip Ridley ausgewiesen als einer, der das, was man gemeinhin als Heranwachsen bezeichnet, für einen überaus monströsen Prozeß hält. Reflecting Skin ist der allerschwärzeste Schattenwurf treuherziger Kindermärchen in Spielbergscher Manier: Er zeigt uns die symbolgefügte Welt eines Kinderalptraums, der zu einer Schreckensvision globalen Ausmaßes wird. Der Film mag im amerikanischen Mittelwesten der fünfziger Jahre spielen, von den US-Atomversuchen im Pazifik entfernt er sich jedoch nie sehr weit.

Einmal nimmt sich Seth drei Fotos aus der Brieftasche seines Bruders und ordnet sie vor sich auf dem Küchentisch an: ein Bild eines Kindes aus Hiroshima, ein Pinup-Foto und ein Schnappschuß der beiden Brüder.

Ridley skizziert diese Welt als dichtgeflochtenes Netzwerk sinnlicher Eindrücke, die doch nie recht von Leben durchdrungen zu sein scheinen: einsame weiße Häuser inmitten wogend-goldener Weizenfelder unter tiefblauem Himmel, dazu stickige Interieurs, die von Fäulnisgeruch erfüllt sind. Sein Erzählpersonal besteht aus lauter Figuren von morbider Bodenständgikeit und versunken in Träume und Erinnerungen, die in diese Welt geraten sind, in ihr aber nie heimisch wurden.

Daß Ridley ursprünglich Maler war, ist jeder Einstellung seines Filmdebüts anzusehen und auch jedem der bildmächtigen Dialoge anzuhören. Seine Inszenierung ist opulent, barock und gewichtig: kaum eine Szene, die er nicht mit einer Kranfahrt krönen oder mit pompöser Musik akzentuieren wollte. Doch was bisweilen wie eine Überfrachtung wirken mag, ist nur dem Gesichtspunkt seines Protagonisten verpflichtet. Wenn die Kamera sich dem Wechselrhythmus von extremen Unter- und Aufsichten unterwirft, dann belegt sie sinnfällig, daß der Film die Kinder- und die Erwachsenenperspektive nie in Einklang bringen will.

Daß Ridley sein reiches inszenatorisches Vokabular ungestraft-eitel entfalten kann, verdankt sich vor allem der mustergültig strengen Drehbuchkonstruktion. Jedes Wort, jede Geste, jede Wendung ist mit Bedacht gewählt, um später ihr sinnenthüllendes Echo zu finden. Der Film nimmt sich mit grausamer Folgerichtigkeit beim Wort, besser: beim Bild.

Seths allzeit durstiger Vater („Du mußt trinken, Sohn, sonst trocknest du aus“) ist Tankwart, und der Benzingeruch verläßt ihn niemals, worüber vor allem seine Frau unentwegt klagt. Später gerät er in Mordverdacht und will sich umbringen: mit Benzin, das er zunächst trinkt und sodann entzündet. Ridleys Szenarium folgt der unerbittlichen Logik eines Alptraums, als sei alles auf den einen Dialog am Ende des Films hin konstruiert. Seths älterer Bruder fragt: „Warum spielst du nicht mit deinen Freunden?“ „Die sind alle tot.“

Philip Ridley: Schrei in der Stille (Reflecting Skin). Mit Viggo Mortensen, Lindsay Duncan, Jeremy Cooper u.a., Großbritannien 1990, 95 Min.

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