Panzer in den Straßen von Algier

■ Nach schweren Straßenschlachten zwischen Polizei und Anhängern der radikalen Islamischen Heilsfront (FIS) verkündete Algeriens Staatspräsident Chadli Bendjedid am frühen Mittwoch morgen den Ausnahmezustand

Panzer in den Straßen von Algier Nach schweren Straßenschlachten zwischen Polizei und Anhängern der radikalen Islamischen Heilsfront (FIS) verkündete Algeriens Staatspräsident Chadli Bendjedid am frühen Mittwoch morgen den Ausnahmezustand.

Gespannte Ruhe herrschte am Mittwoch in der algerischen Hauptstadt Algier, nachdem in der Nacht Staatspräsident Chadli Bendjedid in einer Fernsehansprache den Ausnahmezustand und den Rücktritt der Regierung Hamrouche erklärt hatte. Dem nächtlichen Kommuniqué zufolge wurden auch die für den 27. Juni geplanten ersten freien Parlamentswahlen seit der Unabhängigkeit Algeriens auf unbestimmte Zeit verschoben. Chadli begründete die von ihm veranlaßten Maßnahmen damit, daß er eine „Krise größeren Ausmaßes“ verhindern und die Ordnung im Land aufrechterhalten wolle. Der Grund für die präsidentielle Verfügung: am Vortag war es zu verbitterten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern der Islamischen Heilsfront (FIS) gekommen, in deren Verlauf sechs Demonstranten getötet und etwa vierzig verletzt worden waren.

Der Belagerungszustand wurde zu einem Zeitpunkt bekanntgegeben, als an strategischen Punkten der Hauptstadt bereits Panzer Position bezogen hatten. Wie schon am Vortag kam es dann zu schweren Zusammenstößen. Augenzeugen berichteten, sie hätten gegen 02.00 Uhr Ortszeit eine Kolonne gepanzerter Fahrzeuge im Zentrum der Hauptstadt gesehen. Die Fahrzeuge hätten eine Kreuzung überquert und seien in Richtung eines Stadtteils gefahren, wo die fundamentalistische FIS über zahlreiche Anhänger verfügt. Wie es weiter hieß, hätten Demonstranten versucht, das Finanzministerium, den Justizpalast sowie mehrere Polizeistationen zu stürmen. Dabei seien auch Molotowcocktails geworfen worden. Die Polizei habe die Menge mit Tränengas auseinandergetrieben. Andere Demonstranten errichteten in den frühen Morgenstunden Straßensperren an wichtigen Verkehrsknotenpunkten in Algier.

Begonnen hatten die Auseinandersetzungen in der Nacht zum Dienstag, als FIS-Anhänger durch die Stadt zogen, um gegen das Wahlgesetz und den eingeschränkten Zugang der FIS zu den Medien zu protestieren. Unablässig verlangten sie den Rücktritt der FLN-Regierung. Bis zum frühen Dienstag nachmittag hatte sich die Situation derart aufgeheizt, daß die Polizei sich daranmachte, die Menge mit Tränengas vom Platz des 1. Mai zu vertreiben, den die Fundamentalisten tagelang besetzt hatten.

Als aus dem Innenministerium die Direktive kam, von nun an alle weiteren ungenehmigten Versammlungen aufzulösen, kam es sofort zu neuen Aktionen: Militante FIS-Anhänger lieferten sich, mit Eisenstangen, Steinen und Molotowcocktails bewaffnet, mehrere Straßenschlachten mit der Polizei. Kurz nach 15.00 Uhr Ortszeit kam dann ein Polizeihauptmann zu Tode, der von einem Balkon aus mit einem schweren Gegenstand beworfen worden war. Daraufhin fielen Schüsse. Für sechs Demonstranten endeten sie tödlich.

Die Zusammenstöße bildeten den vorläufigen Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen demonstrierenden radikalen Moslems und der Regierung Hamrouche. Bereits seit über zehn Tagen hatte die FIS mit Aufrufen zu Generalstreik und Demonstrationen versucht, die Menschen gegen die politische Führung des Landes zu mobilisieren. Ihr Protest richtete sich nicht nur gegen die einseitige Übervorteilung der regierenden FLN-Regierung bei den — inzwischen verschobenen — Wahlen vom 27. Juni; die FLN hat sich die Wahlkarte so zurechtgeschneidert, daß sie kaum verlieren kann. Der FIS-Vorsitzende Abassi Madani, von der französischen Zeitung 'Le Monde‘ (Mittwochsausgabe) danach befragt, ob die FIS an den Wahlen teilnehmen oder sie boykottieren werde, erklärte die Entschlossenheit seiner Partei, die Wahlen auf jeden Fall zu boykottieren, da die Forderung der FIS nach Aufhebung des neuen Wahlgesetzes und nach der gleichzeitigen Wahl des Präsidenten für die Regierung ohnehin unakzeptabel sei.

Beobachter sehen in der zunehmenden Aggressivität der FIS-Demonstranten ein Zeichen dafür, daß diese ihre Aussichten auf einen Erfolg bei den Wahlen schwinden sehen. Insbesondere im Osten des Landes, das von schweren Überschwemmungen heimgesucht wurde, hat sich inzwischen Enttäuschung über die von der FIS dominierten Kommunalpolitik breitgemacht; die Fundamentalisten zeigten sich außerstande, die Katastrophenhilfe wirksam zu organisieren. Und der Generalstreik, zu dem die FIS seit Wochen aufgerufen hatte, war nur von einer Minderheit der Arbeiterinnen und Arbeiter befolgt worden.

Am Mittwoch morgen waren in Algier zahlreiche Straßen von den nächtlichen Ausschreitungen gezeichnet. Armee und Polizei, die am Vormittag den Verkehr in der Hauptstadt streng kontrollierten, wurden als „außergewöhnlich nervös“ beschrieben. Mit Ausnahme von Bäckereien blieben alle Geschäfte geschlossen. Überall lagen die rauchenden Wracks ausgebrannter Polizeifahrzeuge und PKWs. Rundfunk und Fernsehen sendeten unablässig die Proklamation des Präsidenten, als einzige Zeitung war die amtliche FLN-Zeitung erhältlich — gespannte Ruhe in Algier. Hera