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Kontrollierte Vieldeutigkeit

Über die politischen Dimensionen in Frank Castorfs Theaterarbeit  ■ Von Peter Staatsmann

In der DDR der achtziger Jahre waren die Theaterarbeiten Frank Castorfs nicht bloß politisch oppositionell, weil sie mittels Anspielungen aussprachen, was ansonsten zensiert und tabuisiert war. Ihre politische Brisanz lag wesentlich darin, daß sie ein bestimmtes Lebensgefühl vermittelten, das in der DDR abgestorben war. In Castorfs anarchischen und komplexen Inszenierungen liiert sich Protest mit Lust, weil der Protest sich gegen die Austreibung der Lust richtete. Die Wiederentdeckung und Wiedererweckung der „tieferen“ Kräfte des Körpers, der Diskontinuität und des Konkreten, in den Reserven von Alltag und kritischer Pop- Kultur, war durchaus Aspekt der politisch-gesellschaftlichen Kritik. Das Theater versuchte an etwas zu erinnern, was diese Gesellschaft in ihrer Geschichte verhängnisvoll immer stärker ausgeschlossen hatte.

Während in der DDR diese politische Dimension der Inszenierungen — von den Zuschauern und auch von der Zensur — deutlich wahrgenommen wurde, zeichnet sich die heutige Kritik durch deren Verdrängung aus, wobei mit dem Schlagwort „Avantgarde“ der bloße Spektakel-Aspekt betont wird. Gerade die Berliner Inszenierungen jedoch, die während und nach dem Ende der DDR entstanden, wieDie Räuber an der Volksbühne-Ost (Premiere 22.9.90) und John Gabriel Borkmann in den Kammerspielen des Deutschen Theaters (Premiere 21.12.90), zeigen die Kontinuität der politischen und gesellschaftlichen Zielrichtung dieser Theaterarbeit. Beide Produktionen — wie auch Das trunkene Schiff (1988, Volksbühne-Ost) und Paris, Paris (1988, Deutsches Theater) — befinden sich noch auf den Berliner Spielplänen, auch in der nächsten Spielzeit. Für Zuschauer aus dem Westen zumeist unverständlich geblieben, für Zuschauer aus dem Osten „lebenswichtige“ Selbstverständigungs-Veranstaltungen, sind die beiden jüngsten Berliner Inszenierungen von Castorf großanlegte Auseinandersetzungen mit der DDR-Geschichte aus der Perspektive der schnell sich wandelnden gegenwärtigen Situation.

Die Inszenierungen Frank Castorfs sind Collagen, die poetische, philosophische und gesellschaftliche Texte mit Elementen des Alltagslebens, die jedem Zuschauer geläufig und vertraut sind, zusammen montieren. In Bewegung gesetzt werden die dispersen Bestandteile der Konstruktion durch Schauspieler, die ihre eigenen Erfahrungen zum Ausgangspunkt ihrer Improvisationsspiele machen, so daß in den Aufführungen auch ihre private Person erscheinen kann. Die stets vorhandene Möglichkeit, aus der Kunstfigur auszusteigen, wird von den Schauspielern und der Regie gern dazu benutzt, den Zuschauer witzig und gefährlich spüren zu lassen, das Spiel könnte abbrechen, plötzlich ernst werden. Die Grenze zwischen Kunst und Realität wird für einen Augenblick aufgehoben, der kleine Schreck aktiviert den Wirklichkeitssinn des Zuschauers. Diesen Zweck verfolgt auch die subtile Dramaturgie der Kontraste, deren virtuose Anwendung von regelrechten Kompositionen sprechen läßt. Da Erkennntis und Erfahrung entsteht, wo Differenzen sind, hat es sich Castorf zum leitenden Prinzip gemacht, Brüche und Kontraste im szenischen Gewebe zu organisieren. Dies geschieht jedoch nicht, wie von theaterblinden Kritikern beharrlich unterstellt wird, um der bloßen Schockierung und Provokation willen („épater le bourgois“), sondern um dem Zuschauer Erfahrungen mit seiner eigenen Wirklichkeit, durchaus lustvoll, zu ermöglichen.

Darin liegt die bedeutsame plebejische (um nicht zu sagen proletarische) Potenz dieses Theaters. Es gibt keine Vorgänge auf der Bühne, die nur über die bildungskonventionellen Symbole und Codes verstehbar wären, sondern immer konkrete und alltägliche Spielvarianten, die dazu dienen, jedem Zuschauer Zugang zu zum komplexen (Spiel-)Zusammenhang zu verschaffen. Es werden handfeste, konkrete und körperliche Spiele gefunden, die mit Alltagsmaterial dafür sorgen, daß die Konfliktmomente des Stoffs (die mit denen des Dramas zusammenfallen können) sinnlich und einfach erfahrbar werden. Wer beobachtete nicht gern einen konkreten, wirklichen Vorgang, zum Beispiel wenn jemand einen Ziegelstein zertrümmert oder zwei eifersüchtige Kinder sich mit Lehm bewerfen oder die zwei um den Sohn konkurrierenden Mütter in Borkmann um den Platz in einem Sessel ringen. Die Materialien und Situationen für die Erfindungen konkreter Spiele sind beschränkt, die Möglichkeiten der Verknüpfung und Montage jedoch unerschöpflich.

Die Castorfsche Mischung verschiedener Mittel und Verfahrensweisen und eigener Theatererfindung ist nicht nur einfach eine neue spezifische Handschrift eines Regisseurs, sondern eher eine Abzweigung vom „mainstream“ bürgerlicher Theaterkonvention. Castorf ist nicht der Erfinder einer neuen Tradition, aber einer ihrer wichtigsten und vitalsten Fortsetzer. Er steht in einer von Brechts Theaterdenken ausgehenden Linie mit Heiner Müller, Benno Besson, Herbert König, Einar Schleef, Manfred Karge, Matthias Langhoff, Herbert König, Jürgen Gosch, um nur einige, aber repräsentative Namen zu nennen. Sie stehen für eine reflektierende und veränderungsfähige Brecht-Nachfolge, die bei allen Differenzen zwischen den einzelnen Regisseuren, fundamentale Orientierungen gemeinsam haben. Einer ihrer Grundsätze, deren erster ist, keine zu haben, lautet, die Vergangeneit eines Stücktextes mit der Gegenwelt so zu vermitteln, daß für den Zuschauer aus dieser Spannung historische und aktuelle Erkenntnis entsteht.

Die skizzierte unbürgerliche Traditionslinie dieses besonderen „Realismus“, dem Castorf, wie die meisten anderen auch, eine spezifische und singuläre Ausformung gegeben hat, stellt gegenwärtig das einzige Theatermodell von Bedeutung dar, das im deutschsprachigen Theater existiert. An dieses Modell, im weitesten Sinne, anzuschließen, ist für junge Regisseure durchaus legitim, wennn nicht sogar, mangels anderer Optionen, unumgänglich.

Die Produktionsbedingungen — das ist für die Attackierung der bürgerlichen Rahmenbedingungen des Theaters unverzichtbar — sind im Produktionszusammenhang dieses Theaters, wo nicht schon veränderte, so doch als zu verändernde, in die Arbeitsauseinandersetzungen miteinbezogen. Dazu gehört neben der Suspendierung der üblichen starren Hierarchien des Theaterbetriebs die rigorose Demokratisierung der Besetzung wie auch die Enthierarchisierung des Personals eines Stückes.

Während die Inszenierung von Schillers Räuber noch zu Zeiten der DDR entstanden ist, und dadurch an einigen Stellen schon fast entrückt und historisch wirkt, analysiert die Inszenierung von Ibsens John Gabriel Borkmann die jüngste und letzte DDR-Geschichte von einem Punkt aus, der mehr Allgemeinheit zuläßt. Fast alle Motive, die in der Schiller- Inszenierung anklingen, werden in der Ibsen-Inszenierung fortgeschrieben. Die Räuber behandeln die Kollektivseite der DDR-Gründung und ihrer endenden Geschichte, während Borkmann die aktuelle Geschichtsbetrachtung mehr unter dem Aspekt der Einzelnen und ihrer eher verschiedenen „Schicksale“ anstellt.

Die Räuber-Inszenierung ist eine wütende und kämpferische Verarbeitung der Ereignisse des letzten Jahres. Analyse der Naivität und der Romantik der ost-deutschen „Revolutionäre“, wie sie in den Bandenszenen stattfindet, mischt sich oft — durchaus ambivalent — mit der Wut radikallinker Haltungen (Musikzitate von „Ton, Steine, Scherben“). Im Zentrum der Inszenierung stehen die Fragen nach den Fehlern in der Geschichte der DDR, wie sie sich im idealistisch-arglosen Verlauf der Aufstandsbewegung teilweise wiederholten. Die rückwärtslaufende Dramaturgie, die den Stückbeginn umkehrt, und die sich im Motiv der Regression mehrfach szenisch wiederholt, ist die materialistische Korrektur der idealistischen Schillerschen Rebellionsphantasien und eröffnet einen Reflexions- und Erfahrungsraum, der nicht zuletzt auch im Horizont der Geschichte der West- Linken von Interesse ist. Auf den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, wohin die Inszenierung eingeladen ist, hat sie ihren durchaus richtigen Ort. Um die in der Kritik verdrängte politische Bedeutungsebene im Theater von Castorf aufzuweisen, eignet sich die klarer gegliederte und transparenter gebaute Ibsen-Inszenierung besser, als die „wilde“ Schiller-Inszenierung, die, ganz der historischen Situation entsprechend, in der sie entstand, offener und vielfarbiger ist.

Da das Stück John Gabriel Borkmann von Ibsen, diesem Psychoanalytiker „avant la lettre“, auch für historische und gesellschaftliche Lesart viel enthält, konnte der Regisseur fast ohne Striche am Stücktext damit die Psychoanalyse der „deutschen Revolution“ und ihrer Vorgeschichte in der DDR anstellen. Das Stück, wie das Theater Castorfs, poetisch und analytisch, vielschichtig und präzis zugleich, handelt von Verdrängungen, Erstarrungen, Lebenslügen und deren fatalen und letalen Folgen und kann deshalb zum Modell für den gesellschaftlichen Prozeß der ostdeutschen Gegenwart auf dem Hintergrund der Geschichte der DDR werden.

Für den Bankdirektor Borkmann, von dem alle einst wie von einem König sprachen, und der immer schon unsinnig repräsentieren mußte, ist sein ganzes Leben wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Mit hochaufgetürmtem Idealismus wollte er, der Sohn eines Bergmanns, „ein Reich des Wohlstands für alle“ schaffen. Am Anfang (und das ist der Anfang der DDR) hatte Borkmann allzu bald die Konkurrenz mit Hinkel (das ist der wetteifernde Nachbar) im Sinn, an deren Ende (das ist 1989) er in die Tiefe stürzt und der andere triumphiert. Durch den Wettlauf mit dem Westen handelte sich der Gründersozialist die Strukturen des Kapitalisten ein. Er hat verraten, was ihm „das Teuerste war“, die Frau, die er wirklich liebte: Ella Rentheim. Borkmann hatte sie damals zurückgewiesen, weil sein Gegenspieler Hinkel sie gleichfalls begehrte und ihn unter Druck setzte. Er meint, keine Wahl gehabt zu haben: siegen oder fallen — und so gab es keine Wahl 1949. Und um zu „siegen“, hat er preisgegeben, was seine (und unsere) einzige Chance gewesen wäre, die Verbindung mit der „verwandlungsmächtigen“ Ella. Nach der Zurückweisung durch den starren Borkmann verkümmerte die liebende Ella, lebte dahin wie erstarrt, konnte (durfte) keinen mehr lieben, bis auf den einen. Entstehung der Diktatur aus dem Ungeist der Verdrängung.

Das Ibsen-Stück handelt vom Kampf um die Jugend, um Erhart, den Sohn von Borkmann und Gunhild, seiner Frau. Alle wollen ihn an sich binden, seine Mutter Gunhild als Rächer und Wiedergutmacher, ihre Schwester Ella, die Tante, als Trost für ihren bevorstehenden Tod und als Erbe und schließlich noch Borkmann, der ihn zum grandiosen Neubeginner unter den neuen Verhältnissen modeln will. Für Erhart ist es nicht mehr auszuhalten unter dem Dach dieses Hauses, die ein-tönige Musik, die der Vater in seiner Klause aus dem Horn bläst, treibt ihn ebenso fort wie die Kleinbürgeratmosphäre seiner Mutter Gunhild und die milde Romantik Ellas. Er hat sich längst

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entschieden und folgt der Einladung der ihm unbekannten Hinkels, diesen so lebensfrohen und gastfreien Menschen. Von dorther kommt auch der bunte Paradiesvogel Fanny Wilton, die lustige Witwe, die Erhart am Wickel hat, um mit ihm gen Westen davon zu fahren. Sein Entschluß zu gehen, erzeugt den Druck, unter dem die erstarrten Verhältnisse zu wackeln beginnen.

Und es gibt noch den liebenswerten Trauerspielschreiber und armseligen Opportunisten Wilhelm Foldal, der einzige Freund Borkmanns, der allerdings auch durch die Mißwirtschaft des alten Borkmann ruiniert wurde, aber immer noch in treu- deutscher Anhänglichkeit bei seinen Besuchen ein Fläschchen Bier in das Glashaus schmuggelt, in dem Borkmann sitzt. Er reibt sich im Gespräch mit dem tyrannischen Kleinbürger Borkmann die Schuhsohlen mit Seife ein, auf daß er eleganter schmieren kann, die Schräge hinauf. Bis er auf seiner eigenen Schmiererei ausrutscht und auf die Fresse fällt.

Die Ankunft Ellas löst die Krise aus. Die Frauen heizen tüchtig ein, die Bürgerbewegungen treiben die Wende voran, auch die Observationen des nörgelnden Borkmann halten sie nicht mehr auf. Sie heizen, bis das DDR-Puppenheim, das Gefängnis für diese arme Famnilie bis gestern, lichterloh brennt, keiner mehr raus- und reinkommt. Da zerbrechen Freundschaften, die auf gegenseitigem Betrug beruhten. Man hat sich etwas vorgemacht. Borkmann und Foldal, der „mächtige“ Funktionär und der kleine Mann, der sein Parteigänger war. „Ich glaubte solange an dich, wie du an mich glaubtest. Wenn du nicht mehr an mich glaubst, glaube ich nicht mehr an dich.“ Der universale Mechanismus der wechselseitigen Abhängigkeit von Herrscher und Beherrschtem zerbricht.

Die Ausschließung der irrationalen und veränderungsfähigen Momente von Natur und Kunst aus dem Konzept der Aufklärung im sozialistischen Deutschland, die nie aufhörte, machte das rationalistische Gehäuse dicht. Die kleinbürgerlich verdrängende Triebökonomie siegte auch im großen, in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Als künstlerischer Widerstand dagegen war das Theater Castorfs schon lange zur Spezialistin der Dialektik der Aufklärung geworden. In seiner Kritik hat er das Verhältnis von Rationalem und Irrationalem anders balanciert: Gegen die Erstarrungen des preußisch-protestantischen Hegelstaats DDR hat es die von ihm niedergehaltenen Kräfte von Trieb und Chaos mobilisiert, nie aber ohne den tiefgehenden Konflikt für jeden Einzelnen bearbeitbar zu machen.

Kurz vor der verständlichen Flucht Erharts gibt es noch einen Versuch der Verständigung. Der alte Borkmann probiert die am Boden liegende Ella, seine alte verratene Liebe, auf Händen zu tragen, wie dies Erhart mit Fanny Wilton tut. Ein allzu später Versuch, die Dialektik hinzukriegen. Er bringt die Frau nicht mal mehr vom Boden hoch. Langsam zerrinnt die Illusion der Alten, daß auch nur einer von ihnen Erhart noch gewinnen könne und so von vorn zu beginnen sei. Nach einem Augenblick, in dem die DDR Volkseigentum geworden war, zerstieben die Utopien von einem demokratischen Sozialismus. Nie hat Erhart seinen eigenen Willen gehabt, jetzt will er ihn endlich, und ohne Einschränkung. Wo allzu lange alles, „was kribbelt und wibbelt“, unterdrückt wurde, platzt und quillt es jetzt nur noch so heraus. Eine einfache — dialektische — Wahrheit. Es gibt kein Halten mehr für Erhart, er muß los. Mit im Silberschlitten sitzt die Artistin Frida, die kleine Tochter des heruntergekommenen Foldal, deren Jonglierkunst schon keine reale Sprengkraft mehr besitzt. An ihr, der unschuldigen und ein wenig hurenhaften Pausenclownin, entfaltet die Inszenierung eine veritable Theorie des Künstlers in der Zeit des Untergangs des „Sozialismus“ und des Universalwerdens des Kapitalismus.

Der Schlitten, in dem die Jugend sitzt, fährt an. Foldal, der ewige Verlierer, wird sogleich überrollt, schwer verletzt kommt er zu Borkmann, der ihm mit einem Arschtritt auf die Beine hilft: „Überfahren werden wir alle einmal, dann muß man sich eben wieder aufrichten.“ Der ehemalige Funktionär mobilisiert den ganzen Fanatismus seiner versunkenen orthdoxen Religion, für die neue Aufgabe: Arbeiten und nochmal arbeiten, als wäre da kein Traum und kein Alp-Traum gewesen. Er wird wohl, anders als Foldal, wieder als Gewinner durchkommen.

Die „Revolution“ gipfelt in einem Heldengesang, den Erhart anstimmt. „Good bye, Johnnie“ — Borkmann ist tot. Wenn die Spieler auf der Bühne es singen, ist es ein lustiger Gesang, darauf tönt über die Lautsprecher das Lied von Hans Albers aus einem Film von 1943. Zuerst ist es eher das Volkslied vom Freiheitskampf, dann ein „bärbeißiges“ Heldenlied von Kameradschaft und der Schicksalsergebenheit. Doch beide Versionen, die von links und von rechts, sind auch in sich zwiespältig, sie sortieren Gut und Böse nicht sauber auseinander. In die Falle der Faszination geht jeder, um ein Haar hätte man mitgesungen.

Die radikal theatralische Haltung, die nie das eine ohne das andere gibt, sich immer auf der Höhe der Mischungen der Wirklickeit hält, ist auch der tiefere Grund für den außerordentlichen Humor dieses Theaters. In diesem Theater gibt es niemals einfach Symbolisierungen oder eindeutige Psychologisierungen. Durch den Zustand eines Einzelnen hindurch wird immer auch ein Allgemeines sichtbar, und vom Allgemeinen her wird wiederum die Situation der Einzelnen verstehbar. Die Theaterarbeit Castorfs hat eine dialektische Verschränkung zur Voraussetzung, die sich ein idealistischer Kopf niemals aneigenen wird.

Am Ende neigt sich die Inszenierung von der Groteske zur Tragödie und trägt damit nach, was die Öffentlickeit in Deutschland zum raschen Ende der DDR wieder verdrängt: die Trauer um gescheiterte Hoffnungen, um vergebliche Anstrengungen und um verlorene Utopien. Die Klage der Zurückbleibenden, der zwei Frauen, ist eine Liturgie von drei Schatten. „Es war unser Lebenstraum. Und nun ist alles im Schnee begraben.“ Erst langsam kommt man zur Besinnung, so schnell ist da ein Land untergegangen. „Und da liegt es nun — schutzlos, herrenlos, Räubern und Plünderern preisgegeben.“ Am Ende ein ambivalentes Requiem Borkmanns. „Und ich habe es versucht. Doch es ist mir nicht gelungen. Der Schatz sank in die Tiefe zurück.“

Kaum hatten die Hunderttausenden der Demonstrationen durch friedliche Beharrlichkeit ihr Land endlich in Besitz genommen, bekamen sie die deutsche Staatseinheit, die sie nicht verlangt hatten. Am Schluß die erschöpften Worte von Ella. Originalton Ibsen: „Wo sind wir denn hier, John? Ich kenne mich nicht mehr aus. Aber warum müssen wir denn so hoch steigen? Ach, aber ich kann bald nicht mehr.“

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