piwik no script img

Ein traditioneller Kiez hat sich zum Dorf gemausert

■ Die Leonhardtstraße in Charlottenburg/ Alle kennen alle/ Busse fahren hier schon lange nicht mehr/ Hinzugezogene zahlen für die »Atmosphäre«

Charlottenburg. Eine Dorfstraße. Man kennt sich. Wer hier wohnt, muß selten die beiden Ausgänge benutzen — den oberen, bewacht vom Amtsgericht Charlottenburg; den unteren, Zutritt zum Stuttgarter Platz. Dort beginnt das anonyme Berlin, die Großstadt. Unsichtbare Grenze: die Windscheidstraße. Wer sie überschreitet, gerät ins Rotlichtviertel, ins Berlin der asiatischen Transvestiten, der Bars für englische Soldaten, in die türkisch-polnischen Basarzelte, auch ins Café mit dem irritierenden Namen Voltaire. Zurück also. Die heile Welt der Kinder, der Spielplatz, ist an schönen Tagen so gut besetzt, daß die Renten auf ewig gesichert scheinen. Und gleich daneben, an der S-Bahn-Unterführung ist die libanesische Pizzabude mit dem nordischen Namen Sven, sie hat immer geöffnet, tagsüber ist es die Kantine vom Spielplatz. Gegenüber die Dorfcafés, Lenz, Görs, Dollinger, die sich abends in Kontaktadressen für arrivierte 40er verwandeln. Die »alten« Dorfcafés sind in der Leonhardtstraße: Die Cafémaschine, eher bieder, das Camarillo, schon schriller, spiegeln die alte Mischung wider. Der 62er Bus fuhr früher durch die Straße. Was Bürgerinitiativen nicht schafften, erreichten die 5-Minuten-Parker in der zweiten Spur, nach einigen fruchtlosen Drohbriefen an den Haltestellen (»Wegen ständigen Falschparkens sehen wir uns gezwungen...«) hat die BVG resigniert, kein Bus fährt mehr durchs Dorf. Erfolgreicher war die Bürgerinitiative mit dem Trafohäuschen vor Reichelt. In zähem Kampf wurde dem Bezirksamt eine hölzerne »Spielburg« für Kinder abgetrotzt, und noch trotziger wurde sie gebaut, als längst schon der große Spielplatz an der Windscheidstraße fertig war. Die Investitionsruine wurde dann wegen Baufälligkeit entfernt.

Baumzettel verraten Wohngelüste, teils naiv (»Hier möchten wir wohnen«), teils marktwirtschaftlich (»1.000 DM Belohung«), aber die Leonhardtstraße ebenso wie die angrenzenden Straßen sind längst kein Geheimtip mehr, die Makler haben mit Kennerblick parzelliert und, wo es geht, in Eigentum umgwandelt. Das schafft Anonymität, in solchen Häusern kennt man sich kaum noch... Glücklich diejenigen, die noch in die »alte« Leonhardtstraße zogen, sich mit »El Schweigo«, dem Briefträger, duzen, der seit 14 Jahren das Dorf postalisch betreut, die bei Frau Schwedsa Zigaretten kaufen und bei Pogi Holz zuschneiden lasen. Hinterhoffeste sind selten geworden, der Kiez ist nicht mehr so bunt gemischt wie früher, Ärzte, Rechtsanwälte und Architekten bezahlen gerne für die Atmosphäre, aber Nachbarn stören eher. Irgendwann verabschiedet sie sich dann leise, die Atmosphäre...

Noch gibt es nahezu alles in der Leonhardtstraße. Sogar ein Dorfkino, es ist allerdings schon in der Windscheidstraße, das Klick. Apropos Kino, hier wird viel gedreht, kleine und große Filme. Warum? Erraten, die Atmospäre. Aus diesen Gründen streifen auch dann und wann kleine Ausländergrüppchen vom Goetheinstitut umher, den Fragebogen in der Hand, die »tragende Rolle der Frau« zu suchen. Die richtige Antwort ist stets das Haus Windscheid Ecke Stuttgarter Platz, die Balkone werden dort weiblich gestützt. Das Haus wurde übrigens vor einigen Jahren von den Mietern erworben, ebenso wie »Stutti 20«, worin sich das »Lenz« befindet. »Hier wohnen die ganz alten 68er«, weiß ein Student seinem staunenden Besuch aus der Provinz zu berichten. Hat er recht? Nun ja, ein bißchen Geld wollte die Bank schon sehen...

Das neueste im Dorf: Das Dollinger. Ein Schickeriacafé, das der Kiez eher meidet, an dieser Ecke war eine wunderschöne Drogerie, man hatte zwei Eingänge zur Wahl, Leonhardt oder Stutti. Die alte Einrichtung ganz aus Holz hat eine Filmgesellschaft gekauft. Ein anderer Verlust: Der Lottoladen nebst Theaterkasse in der Leonhardt 14. Die lebhafte Dame mit der rauchigen Stimme ist letztes Jahr gestorben, jetzt ist dort eine Modeboutique. Viel Altes ist nicht mehr da. Der Bäcker, der Fleischer, der Schuster, die Fußpflege, Schnörkel, der Antiquitätenhändler, die Blumenfrau gehören zu den Traditionsläden.

Die Leonhardtstraße beherbergte keinen »großen Sohn«, aber sie hat dennoch Geschichte. Den Krieg hat sie heil überstanden, wenn man von den Schäden durch Tiefflieger absieht. Das ist immerhin erstaunlich, denn die nahe Bahnlinie war ein bevorzugtes Ziel. Der Kinderspielplatz, lange Jahre ein öder Platz mit sinnloser Straßenführung, verrät nicht, daß dort bis Mai 45 ein provisorischer Russenfriedhof war. Stramme Nationalsozialisten mußten im Juli 45 die halb verwesten Leichen ausgraben, um sie ehrenvollerer Erde zuzuführen, Kalaschnikow im Rücken. Ein anderer Friedhof, am anderen Ende — der Amtsgerichtsplatz. Dort wurden Bombenopfer beerdigt, auch »provisorisch«. Nein, das Denkmal dort meint nicht die Kiezopfer, jene drei übereinandergeschichteten Leichen aus Bronze repräsentieren nicht die Zwillinge aus der Nummer 3, die dort, nach »Tieffliegereinwirkung« begraben wurden.

Die Leonhardtstraße war der kleinbürgerliche Kiez des großbürgerlichen Charlottenburg. Reichelt, der Supermarkt, war in frühen Zeiten ein Tanzpalast, doch, doch, wenn man genau hinsieht, ahnt man es noch, schieb ihn, den stummen Einkaufswagen, und wähne dich in den schwülen 20er Jahren.

1945 gab's in der Nummer 4 eine Messerstecherei zwischen zwei mongolischen Soldaten unter der Hofkastanie, aber Frau Weber aus dem Hinterhaus konnte ihren (jüdischen) Mann aus dem Kellerexil erlösen. Dorfgeschichten aus der Großstadt. Der Dorfklatsch wird dünner. Von den neuen Reichen mit den 6-Zimmer-Eigentumswohnungen erfährt man nichts mehr, in ein paar Jahren wird die Leonhardtstraße eine bessere Wohngegend im Zentrum der Hauptstadt sein. Nicht mehr. KAZPER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen