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„Nur in Stämmen werden wir überleben“

Multikulturelle Jugendgangs in Deutschland geben sich in einer feindlich gesonnenen Umgebung ihre eigenen Regeln  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen

„Es gibt Zeiten, wo eine ganze Generation, so zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Lebensstile hineingerät, daß ihr jede Selbstverständlichkeit, jede Sitte, jede Geborgenheit und Unschuld verlorengeht.“

(Hermann Hesse)

„Wir Jugendliche, die in so einem Land wie der Bundesrepublik leben, merken, daß wir selber keine Regierung haben und uns mit diesem Staat nicht identifizieren können. Kohl und solche Leute, die im Wahlkampf ausländerfeindliche Parolen plakatieren, können niemals unsere Regierung sein. Ich kann niemals eine Regierung akzeptieren, die generell gegen mich ist. Dann hole ich mir halt meine eigenen Leute und versuche, meine eigenen Regeln, unsere eigenen Gesetze zu machen.“ Mehmed (20), Mitglied der Berliner Jugendgang „Alis“, versucht sich in gesellschaftlicher Standortbestimmung.

Die „Alis“! Ein flüchtiger Begriff. Eine Schimäre. Eine Formel für „I'm Black and I'm Proud“. Ein Synonom für erstarktes Selbstvertrauen und Bewußtwerdung der Kinder der Einwanderer. Die „Alis“, die „United Gang“ und wie sie sonst heißen mögen, sind der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Jugendliche aus den türkisch-nationalistischen Straßenbanden, über Anti- Skinhead-Gangs bis hin zu militanten Freundschaftscliquen einigen.

Ohne feste Organisationsstruktur, ohne politisches Sprachrohr, nur durch ein geheimnisvolles Band miteinander verbunden, können die „Alis“ in Berlin innerhalb kürzester Zeit 500, 1.000, 1.500 „Streetfighter“ mobilisieren. Zum Beispiel am 20.April 1989, als Neonazis zum hundertsten Geburtstag Adolf Hitlers Überfälle auf türkische Einwanderer ankündigen, eine Pogromstimmung entfachen und multi-ethnische Jugendbanden nicht nur in Berlin zu Hunderten den Selbstschutz organisieren. Oder ein Jahr später, als rechte Skins, Hooligans und Neonazis zu Ehren Adolf Hitlers auf dem Alexanderplatz randalieren und sich in Westberlin 700 Jugendliche und junge Erwachsene sammeln, Richtung Ostberlin maschieren, um den „Faschos“ Platzverbot zu erteilen. Oder am 1. Mai 1990 und 1991, am Vereinigungstag, dem 3. Oktober 1990. Und am 3. Oktober 1991?

Das politische Establishment der alten Bundesrepublik fürchtet nun zu Recht Aufstände und Riots der ethnischen Minderheiten. Zumindest in Westberlin brodelt es nicht nur in der Jugendszene Kreuzberg. Seit der „Öffnung“ der Mauer, den rechtsradikalen Übergriffen im Osten, fühlen sich viele Einwanderer in Reservate eingesperrt. Noch sind die Revolten und Bambulen kalkulierbar und an symbolträchtige Daten geknüpft. Das kann sich in warmen Sommernächten sehr schnell ändern. Als Funke genügt ein rassistisch motivierter Mord, Polizeiübergriffe oder Abschiebungen einzelner Jugendlicher.

Coming Out

Zeitgleich mit den spektakulären Wahlerfolgen der „Republikaner“ erlebten die Kinder der Immmigration, bis dato in die gesellschaftliche Randlage abgedrängt, ihr „Coming Out“. Für die breite Öffentlichkeit völlig überraschend, tauchten aus dem großstädtischen Untergrund Jugendgangs mit so illustren Namen wie „Arab Boys“, „Fighters“, „Türkiye Boys“, „Two Nation Force“, „Cobras“, „Ghetto Sisters“, „Jugo- Boys“ und „Bulldogs“ auf.

Gemeinsames Kennzeichen dieser Jugendlichen: In Deutschland geboren und aufgewachsen; De-Facto- Bürger der Bundesrepublik, ausgestattet mit minderen Rechten; „undeutsche“ Physignomie; kulturelle Grenzgänger zwischen morgen- und abendländischen Traditionen und Wertesystemen; soziologisch der Unterschicht und der unteren Mittelschicht zuzuordnen.

„Nur in Stämmen werden wir überleben!“ — die alte Hopi-Weisheit, erfährt nach ihrer Müsli-Version der frühen 80er heute ein kriegerisches Revival. Bereits Elfjährige bis an die Zähne mit Wurfsternen, Butterflymessern, Daumenschrauben bewaffnet, wissen: „Ohne Bande bist du nichts.“

„Wir können sagen, was wir wollen, aber es wird nichts für uns gemacht, weil wir nicht wählen dürfen und unsere Stimme somit unwichtig ist.“ Mehmed bringt das Lebensgefühl seiner Generation auf den Punkt — Ausweg in der Gewalt der Straße suchen oder aber Selbstzerstörung.

Die Anheizer

Die Entwicklung, die heute die Ordnungshüter auf den Plan ruft und für Unruhe in der Bevölkerung sorgt, kam allerdings nicht so überraschend, wie es auf den ersten Blick erscheint. Seit 1982 gründen sich republikweit Streetgangs in den klassischen Arbeiter- oder besser Einwanderervierteln bundesdeutscher Großstädte. Überall stecken sie mit Grafitis ihre Reviere ab. In Berlin sind es die „Vulkanlar“ und „Simsekler“, in Hamburg die „St. Pauli Streetboys“, in Duisburg die „Aposlar“ — um nur einige zu nennen.

1982. Es ist die Zeit, als Kanzler Helmut Kohl mit den Versprechen — Reduzierung der Arbeitslosigkeit und Reduzierung des Anteils der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer — die Wende einläutet und Innenminister Friedrich Zimmermann verkündet: „Ein konfliktfreies Zusammenleben wird nur möglich sein, wenn die Zahl der Ausländer bei uns begrenzt und langfristig vermindert wird, was vor allem die Türken betrifft.“ In den folgenden Jahren haben Einbußen des Lebensstandards, Teuerung und soziale Ängste in der Bundesrepublik einen Namen: Türken und Ausländer haben die Schuld.

Die im Grundgesetz verankerte völkische Definition der deutschen Nation wirkt als Resonanzkörper für die Straßenkämpfe. Seit 1983 häufen sich die Übergriffe schlagkräftiger Naziskins in den Städten der alten Bundesrepublik und erleben nach 1987 einen rasanten Anstieg, um 1991 in Ostdeutschland zu eskalieren. Die „Sturmtruppen für Doitschland“ konstruieren ihren Sündenbock ähnlich wie ihre Mentoren Friedrich Zimmermann, Klaus Landowsky & Co, entlang ethnischer Merkmale und Grenzziehungen.

Die gemeinsame Artikulationsform der multikulturellen Streetgangs, die viel beschriebene Gewalt, hat zahlreiche Gesichter. Die politisch motivierte Gewalt, die zielgerichtet Neonazis, rechte Skins und Jugendgangs trifft, steht neben Machismo und dem Faustrecht des Stärkeren. In den selteneren Fällen ist die Gewalt getrieben von schlichter, krimineller Energie — Überfall, Straßenraub und Vergewaltigung.

Die Gewaltfrage

Nach altbewährtem Muster — die Jugend hat kein Problem, sondern ist eines — stürzt sich die Erwachsenengeneration auf die letztgenannte Form der Gewalt. Sie geht damit den einfachsten Weg und entledigt sich der Verantwortung, weiter über die Ursachen nachzudenken — oder die Quellen, die zur Gewaltbereitschaft führen, gar abzustellen.

Von Kriminalisierung sind alle Gangmitglieder bedroht. Im friedlichen Alltag — und den gibt es, trotz anderslautender Meldungen vor allen anderen Aktivitäten — sind die multikulturellen Gangs wichtige Sozialisationsinstanzen. Sie sind Orte der Identitätsfindung und Persönlichkeitsentwicklung; Experimentierfehler für neue multi-ethnische Kommunikationsformen; Schutzgemeinschaft vor der nicht zu Unrecht als bedrohlich erlebten Mehrheitsgesellschaft; Zufluchtsorte vor den Zugriffen des allmächtigen, patriarchalen und häufig nationalistischen Vaters, der sich nur noch mühsam auf dem selbst geschaffenen Sockel hält.

Die Gang ist nicht zuletzt der Rettungsanker, der vor dem Absinken in die Bedeutungslosigkeit bewahrt und ein letztes Stück Würde und Stolz ermöglicht. Mehmed: „Diskriminierung kommt von allen Seiten. In der Familie, in der Schule, auf der Straße, in der Gesellschaft. Das sind alles Konflikte, wo man sich Gleichgesinnte sucht und eine Bande bildet. Das ist dann wie ein Staat.“

Selbstredend läßt sich das oben Gesagte in modifizierter Form auch für die Streetgangs der neuen Einwanderergeneration Deutschlands sagen — die 17 Millionen ostdeutschen Emigranten, die Hals über Kopf aus der sozialistischen Ödnis in die bunt-schillernde Welt der Marktwirtschaft einwanderten. Auch hier gilt: Jugendbanden — meist rechte Skinheadgangs — sind Orte der Selbstfindung und Schutz vor dem Absinken in das Nichts.

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