Gespenst des Thatcherismus verfolgt Major

Harte Kritik des rechten Tory-Flügels am britischen Premierminister/ Die Partei droht sich an der Europafrage zu spalten  ■ Von Ralf Sotscheck

Die Schonfrist für den britischen Premierminister John Major ist vorbei. Knapp 200 Tage nach seinem Amtsantritt hat der rechte Tory-Flügel zum Angriff geblasen und droht, die Partei an der Europafrage zu spalten. Der ehemalige Handelsminister Nicholas Ridley, der im vergangenen Jahr wegen anti-deutscher Äußerungen seinen Hut nehmen mußte, sagte: „Einige Themen sind so wichtig, daß sie Vorrang vor den Interessen der Partei haben.“

Nachdem die Angriffe im Laufe der vergangenen Woche heftiger geworden waren, versuchte Major am Freitag, die Initiative zurückzuerobern und das Gespenst des Thatcherismus zu verscheuchen. Auf dem Parteitag der walisischen Konservativen bezeichnete er die Tory-Hinterbänkler, die sich skeptisch über seine Taktik bei den EG-Verhandlungen zur Währungsunion geäußert hatten, als „Kleinmütige, die am Rand der Gespräche schmollen, bei denen es um das Schicksal Europas geht“. Er erinnerte seine Vorgängerin Margaret Thatcher daran, daß sie es war, die die europäische Einheitsakte unterzeichnet und so den Weg zur Wirtschaftsunion geebnet habe. „Ich werde es nicht zulassen, daß Großbritannien in Europa an den Rand gedrängt wird“, fügte er hinzu.

Majors Rede, in der er sich so deutlich wie noch nie zu Europa bekannt hat, wird den Widerstand in den eigenen Reihen verstärken. Um seinen Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen, schlug Major jedoch auch versöhnliche Töne an. Er wies abermals auf den Kompromiß in der Frage der Währungsunion hin, den er mit Jacques Delors ausgehandelt hat. Danach wird Großbritannien kein Veto gegen eine einheitliche Währung einlegen, aber selbst nicht an das Abkommen gebunden sein, das im Dezember im niederländischen Maastricht unterzeichnet werden soll. „Regierung und Parlament werden eine einheitliche Währung nur dann akzeptieren, falls sie eine weitere, separate und ausdrückliche Entscheidung darüber treffen — und zwar nicht nur über den Zeitpunkt, sondern über den Beitritt überhaupt“, sagte Major.

Der eher verzweifelte Versuch, die tiefen Risse bei den Konservativen zu übertünchen, machte auf die Dissidenten wenig Eindruck. Die „Brügger Gruppe“, eine rechte Tory-Organisation, deren Präsidentin Margaret Thatcher ist, lancierte in der vergangenen Woche ein Papier, in dem es heißt: „Wir wissen, daß der Premierminister gegen die Wirtschafts- und Währungsunion ist, doch er hat Angst, sein Veto dagegen einzulegen und tendiert statt dessen zu einem Kompromiß.“

Diesen „Delors-Kompromiß“ will Major offenbar „doppelt ratifizieren“ lassen — sowohl vom Parlament, als auch von den WählerInnen. Bei seiner Rede in Wales deutete er an, daß in diesem Jahr keine Parlamentswahlen stattfinden werden. Er wolle Großbritannien bis zum Ende der Verhandlungen über die Währungsunion im Dezember führen, lautete seine Begründung. In Wahrheit dürfte jedoch die tiefe Rezession für die Verschiebung der Wahlen ausschlaggebend sein. Obwohl die Inflationsrate im Mai auf 5,8 Prozent — die niedrigste Zahl seit drei Jahren — fiel, sind Hinweise auf eine Erholung der Wirtschaft nicht in Sicht, und die Arbeitslosigkeit steigt stetig. Die WählerInnen quittieren das: Laut einer Meinungsumfrage des 'Guardian‘ konnte die Labour Party ihren Vorsprung inzwischen auf zehn Prozent ausbauen. Die Finanzmärkte reagierten auf die Regierungskrise, indem sie das britische Pfund in den Keller schickten.

Die Torys haben den Vertrauenskredit, den sie sich mit dem Sturz Thatchers geschaffen hatten, bereits nach einem halben Jahr verspielt. Labour liegt nur noch um einen Prozentpunkt schlechter als kurz vor dem Rücktritt der eisernen Lady. Diese könnte sich doch noch zur Wahlkampflokomotive für die Labour Party entpuppen. Nach einer Phase des Selbstmitleids hat sie sich wieder zu Wort gemeldet. In einem Interview mit einer japanischen Zeitschrift übte sie heftige Kritik an Majors Rückzieher bei der Kopfsteuer, deren starrköpfige Verteidigung sie damals den Kopf gekostet hatte. Zwar empfahlen ihr die Major-Getreuen daraufhin, doch lieber ihre Memoiren zu schreiben, aber dem Premierminister steht weitere Unbill ins Haus. Alle Tory-Augen ruhen heute auf Chicago, wo Frau Thatcher eine Rede vor dem „Rat für auswärtige Beziehungen“ halten wird. Ihre Berater haben bereits angedeutet, daß sie sich dort des Europathemas in der ihr eigenen Weise annehmen werde.

Thatchers Ankündigung, nach ihrem Rücktritt als „Chauffeurin auf dem Rücksitz“ zu operieren, wird immer mehr zum Alptraum für Major. Er hat es bisher nicht geschafft, ein eigenes Profil zu entwickeln. Selbst seine Definition des „Majorismus“ geriet auf dem Parteitag in Wales zu einer Aufzählung von Negativa: „Unser besonderer Toryismus ist das diametrale Gegenteil zum Sozialismus. Er lehnt dessen Politik ab, die auf Neid basiert. Er lehnt dessen Einstellung ab, die Klassengegensätze schürt. Ich will weder Barrieren im Land, noch in der Partei.“

Die Barrieren in der Partei kann Major jedoch nicht hinwegreden. Der zwar kleine, aber einflußreiche Thatcher-Flügel hat Major den Kampf angesagt und wird die „Europabegeisterung“ keinesfalls schweigend hinnehmen. Eine gespaltene Tory-Partei hat gegen die sozialdemokratisierte Labour-Opposition jedoch keine Chance. Major kann die Wahlen höchstens bis zum Juni nächsten Jahres hinauszögern. Sollte er sie dann verlieren, ist seine kometenhafte Karriere vermutlich beendet. Außenminister Hurd und Umweltminister Heseltine, die schon für Thatchers Sturz gesorgt hatten, stehen bereits Gewehr bei Fuß.