: Vorwärts nimmer — rückwärts immer
Der Parteitag der PDS überbrückt nur mühsam die Spannungen zwischen Erneuerern und Traditionalisten/ Radikalreformer gründen „Strömung“/ Neues Forum: PDS auflösen ■ Aus Berlin Wolfgang Gast
Der Thüringer PDS-Mann Steffen Razer ist empört: „Es ist einfach eine Beleidigung der Mitglieder an der Basis“, was da der Genosse Rainer Börner gerade gesagt hat. Der Beifall eines beträchtlichen Teils der 653 gewählten Delegierten ist Razer sicher, als er fortfährt: „Wie bei uns die Vergangenheitsbewältigung abläuft, das könnt ihr in Berlin gar nicht einschätzen.“ Dem Präsidiumsmitglied Börner hält er energisch entgegen, „gerade die alten Genossen bei uns, die waren früher in der Kreisparteikontrollkommission, die haben Leute verurteilt und und und. Für die ist eine Welt zusammengebrochen!“ Die trügen nicht leicht an ihrer Vergangenheit. Ihnen jetzt aber vorzuwerfen, „daß sie keinen Bruch mit den SED-Idealen machen“ — das sei eine glatte Beleidigung.
Was den sonst eher zähen dreitägigen PDS-Parteitag in heftige Wallungen versetzt, ist ein Papier von 37 „Erneuerern“, die die seit eineinhalb Jahren propagierte Erneuerung der Partei praktisch für gescheitert erklären. Ihre Kritik: Die Partei ist nicht in der Lage gewesen, auf die sichtbaren Probleme zu reagieren. Zu sehen sei das am Finanzskandal und dem Umgang mit dem Stasi-Erbe.
Um die Kontroversen innerhalb der Partei „aus den persönlichen Streitigkeiten herauszuheben“, halten es die Unterzeichner, darunter die Präsidiumsmitglieder Börner und Helga Adler, für notwendig, „uns als Strömung in und außerhalb der Partei zu organisieren“. Nur so könne die „innerparteiliche Blockade“ durchbrochen werden.
„Wer Zukunft will, muß die Gegenwart verändern“, kündet das Motto in riesigen Lettern über dem Podium des Parteitages. Sinnbildlich ist der Zusatz, den Unbekannte in einer Sitzungspause hinzugesprüht haben: „und sich auch der Vergangenheit stellen“. Zäh und quälend zieht sich die Vergangenheitsbewältigung durch viele Debattenbeiträge. Immer wieder wird eingeräumt, daß es dabei Konflikte gibt. Differenzen werden angerissen, die Diskussion aber abgewürgt. Die Furcht, die Partei könnte zerbrechen, ist den meisten Delegierten ins Gesicht geschrieben.
Parteichef Gregor Gysi wiederholt seine Drohung, er stehe als Vorsitzender nur dann weiter zur Verfügung, wenn die innerparteilichen Auseinandersetzungen fair und ohne Denunziationen geführt würden. Sein Witz und seine Ironie lockern die Atmosphäre, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch er die Kluft zwischen „Radikalerneuerern“ und „Konservativen“ nur mühsam überbrücken kann. Ob Bundesvorstand, Parteipräsidium oder Bundestagsfraktion — allgegenwärtig herrscht Mißtrauen. Mißtrauen gegen diejenigen, die altgediente SED- und MfS-Funktionäre angeblich ausgrenzen wollten.
Massive Kritik wird aber auch von außen an den Parteitag herangetragen. Der Arbeitsausschuß des Neuen Forums, darunter die BürgerrechtlerInnen Bärbel Bohley und Reinhard Schult, verteilt einen offenen Brief, in dem die Selbstauflösung der PDS gefordert wird. „Da schon die SED- Mitglieder es nicht geschafft haben, ihre eigene Diktatur zu stürzen, sollten die heutigen PDS-Mitglieder den Mut haben, ihre Partei aufzulösen und sich als einzelne Menschen in einen neuen Diskussionsprozeß einbringen.“ Die früheren Oppositionellen, die die Erneuerer in der PDS bisher kritisch begleitet haben, erklären: „Wir haben keine Hoffnung mehr, daß es in eurer Partei Reformkräfte gibt, die stark genug sind, die Partei von innen zu erneuern.“
In der Nacht trifft sich anschließend das Parteipräsidium gemeinsam mit den Vorsitzenden der östlichen Landesverbände zu einer Krisensitzung. Das Treffen dauert bis in den frühen Morgen. Der Verdacht wird geäußert, daß es zwischen dem offenen Brief der Bürgerrechtler und dem Strömungspapier einen inneren Zusammenhang gebe. Fraktionsbildungen, wie sie von den Erneuerern ausgerufen wurden, werden von den „Konservativen“ — unter ihnen der Ehrenvorsitzende Hans Modrow — als „Spaltung“ der Partei begriffen.
Die Mehrzahl der Delegierten kann mit dem Streit in der Parteispitze nur wenig anfangen. Sie sind überwiegend nach Berlin gekommen, um ein Statut und einen Programmentwurf zu verabschieden, den sie zu Hause ihren verunsicherten Grundorganisationen präsentieren können. Eher hilflos fragen Delegierte immer wieder, wer eigentlich mit wem und worüber streitet.
Parteivize Andre Brie kann den drohenden Scherbenhaufen am Sonntag morgen nur mühsam kitten. Im Anschluß an die nächtliche Präsidiumssitzung erklärte er, es gebe niemanden, der die Grundpositionen in dem Brief des Neuen Forums teilt. Ungefragt äußert er weiter, es gebe auch keinen, „der Greogor Gysi oder Hans Modrow nicht hoch einschätzen würde oder demomtieren wollte“.
Die Delegierten nehmen es hin. Der große Knall findet am Wochenende (noch) nicht statt.
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