: Bukarest, Europa
Zur postrevolutionären Theaterlandschaft Rumäniens ■ Von Viktor Scoradetz
Man sollte sich eigentlich nicht wundern, wenn heute manch ein rumänischer Theaterregisseur oder -intendant der Zensur nachweinen würde: ein derart intensives Erleben von Theater, wie es in Ceausescus „goldener Epoche“ gegeben hat, ist zur Zeit kaum denkbar. Je drastischer die Zensur sich gebärdete, umso politischer wurde alles, was sich auf der Bühne ereignete (abgesehen von den linientreuen Produkten). Und je weniger sich die Gegenwartsdramatiker leisten konnten — es gab Stückeschreiber, die drei-, viermal umschreiben mußten, bis ihr Stück zugelassen wurde —, umso mehr leisteten die Klassiker.
Der Politischste war selbstverständlich Shakespeare. In Perikles wurde zum Beispiel das LXVI.Sonett transplantiert: „Tired with all these, for restful death I crie“, was minutenlangen Zwischenapplaus verursachte. Als Feste, der Narr in Was ihr wollt, die Bühne nach Wanzen absuchte, bevor er etwas politisch Deutbares sagte, wurde auch da geklatscht, aber man schaute sich erst vorsichtig um, schließlich konnte man ja nie wissen, wer neben einem saß. Worauf Feste, der Narr, tat, als würde er sich die Namen derjenigen aufschreiben, die geklatscht hatten. Selbst Hamlets Replik „Thrifts, thrifts, Horatio!“ — Sparen, Horatio! — wurde auf Ceausescus „Programm der wissenschaftlichen Ernährung“ bezogen. Häufig war aber die Reaktion jene „dichte theatralische Stille“, wie sie Brook einmal beschrieben hat: Ob es wohl jemanden im Saal gab, der dachte, man müsse das ganze Publikum festnehmen?
Die Revolution richtete die Spielzeit 1989/1990 zugrunde. Viele Schauspieler und Regisseure waren an den Revolutionsereignissen beteiligt und jetzt wirklich politisch beschäftigt. Das Publikum, das früher für Theaterkarten wie für Fleisch angestanden hatte, machte im Straßentheater mit. Einige Intendanten traten sofort zurück, andere erst, als sie von den Schauspielern dazu gezwungen wurden. Neue wurden ernannt. Man erinnerte sich an diejenigen, die im Laufe der Jahre ausgewandert waren oder nur noch im Westen gearbeitet hatten. Die Zensur konnte glücklich sein, solange diese unbequemen Geister nur noch auf Urlaub nach Rumänien kamen. Die meisten hatten inzwischen einen großen Namen, und wären sie alle zurückgekommen, so könnte man eine Nationalmannschaft von Weltklasse aufstellen. Der Kulturminister bot ihnen Intendantenstellen an, doch nur wenige sagten zu. Unter ihnen auch der jüngste, allerdings berühmteste von allen, der ehemalige Brook-Mitarbeiter und La-Mamma-Regisseur Andrei Serban. Er sollte das Bukarester Nationaltheater übernehmen, und viele von uns konnten es gar nicht glauben, dachten, es sei noch so ein Gerücht wie viele andere...
Ein halbes Jahr war vergangen seit der Revolution, und der Kurs war noch nicht so radikal, wie man es erhofft hatte. Die Mafia der Nullitäten faßte wieder Mut und setzte sich zur Wehr — auch im Theater.
Als feststand, daß Andrei Serban die „erste freie Spielzeit“ nicht mit einem rumänischen Stück, sondern mit seiner vor Jahren zu Weltruhm gelangten antiken Trilogie eröffnen wollte, hagelte es Proteste. Es sei ja schließlich das Nationaltheater, dessen „heiligste Pflicht“ darin bestünde, die Nationaldichtung zu fördern... Und, außerdem, ist es nicht ein bißchen zu viel, was man diesen Regisseuren von auswärts zu Füßen legt, die hatten es doch so gut all die Jahre im Westen, als man hier Ersatzwurst essen mußte? Der Ersatzwurst-Patriotismus wurde auch im Theater hörbar, jedoch nur in begrenztem Ausmaß.
Theater war viel mehr
Der September kam, und die Premiere der Trilogie raubte Freunden wie Feinden den Atem. Sie erzählt in einer rauhen, primitiven, unbekannten Sprache (ein Gemisch aus Altgriechisch und Latein), aber umso deutlicher, vom Ursprung der Dinge, vom Anfang der Welt, von der Geburt der Tragödie. Sie läßt den Weg aus der moralisch undifferenzierten Finsternis der Medea ins beinahe unerträgliche Licht der Elektra Schritt um Schritt nachempfinden. Nun stand es endgültig fest: Theater war mehr, viel mehr noch als ein politisch empfundener Lear oder Richard.
Und während sich die anderen Theater noch nicht erholt hatten (viele eröffneten erst im Oktober die Spielzeit), brachte Serban seine zweite Premiere heraus, gleich darauf die dritte. Der Erfolg blieb nicht aus, sowohl beim Publikum wie auch bei der Kritik. Es waren kaum fünf Monate seit seiner Ankunft vergangen; Verträge, die er vor zwei Jahren abgeschlossen hatte, verpflichteten ihn zu Gastspielen in Chicago und Venedig. In Bukarest feierte ein anderer junger Regisseur seinen ersten Triumph: Ironie, Witz, Poesie und ein Hauch von Weltschmerz zeichneten Alexandru Daries Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum aus. Der relativ freie Umgang mit dem Text sowie die streckenweise distanzierte Spielweise war manchem Kritiker zu neu und wurde als respektlos getadelt, doch die Inszenierung gewann, trotz einiger Marginalisieriungsversuche, den Regiepreis des ersten Landesfestivals nach 20 Jahren. Eine herausragende Inszenierung war auch die des ungarischen Theaters aus Cluj/Klausenburg mit Mrozeks Polizei.
Trotz finanzieller Schwierigkeiten kann man nach elf Jahren wieder im Ausland spielen. Das Bukarester Bulandra-Theater eröffnete die englische Spielzeit im Londoner Nationaltheater, und der Erfolg des auf rumänisch gspielten Hamlet übertraf alle Erwartungen. Andrei Serbans Medea — die Reisekosten für die gesamte Truppe der Trilogie waren nicht zu verkraften — wurde in Paris umjubelt. Englische und französische Ensembles kamen wiederum nach Rumänien, wie das Londoner Royal National Theatre mit Ian McKellen und Brian Cox, die in Bukarest ihren King Lear und RichardIII. zeigten. Weitere im Ausland tätige rumänische Regisseure verzeichnen erfolgreiche Inszenierungen in Bukarest. Die Vögel, vom 1975 ausgewanderten Temeswarer Niki Wolcz in Szene gesetzt, gehört im Moment zu den wichtigsten Theaterereignissen. Liviu Ciulei, Ehrenintendant des Bulandra-Theaters, inszeniert einen Sommernachtstraum und Wedekinds Frühlings Erwachen...
Die Spielpläne haben sich um viele Namen bereichert, die bisher taub waren. Das Publikum hat den Weg ins Theater zurückgefunden. Weitere Auslandstourneen stehen bereits fest, und da es andererseits zur Zeit kaum noch eine Premiere von Bedeutung gibt, bei der man nicht auch Pausengespräche auf englisch, französisch und manchmal auch auf deutsch hören kann, beginnt man ja doch zu glauben, daß Bukarest in Europa liegt...
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