: Die Greise befehlen, die Kinder sterben
Tatsache ist, daß die Verantwortlichen für den Golfkrieg — unter anderem ein Diktator, ein Präsident und viele, viele großindustrielle Rüstungsexporteure in aller Welt — zu einer überwältigenden Mehrheit älter als 50 Jahre sind. Tatsache ist weiterhin, daß die ebenso überwältigende Mehrheit derer, die sich entschlossen, diesen Krieg nicht am Fernseher als Pantoffel-Rocky mitzuspielen, sondern auf der Straße bei Temperaturen bis zu minus 15 Grad Celsius auf Mahnwachen, Demonstrationen und Blockaden gegen diesen Wahnsinn zu protestieren, Schüler unter 20 Jahren waren. Tatsache ist darüber hinaus, daß jene, die daraufhin die beispiellose Medienhetze in Sachen Antiamerikanismus inszenierten, sowie Eltern, die ihre Kinder von Mahnwachen wegzerrten, auch nicht zu meiner Generation gehören. Eine schon sehr widerliche Tatsache ist, daß viele der Soldaten, die Saddam Hussein wissentlich den alliierten Flächenbombardements aussetzte und die von den Alliierten dann genauso wissentlich hingemetzelt wurden, Schüler ab 15 Jahren waren. Die mit Abstand widerlichste Tatsache aber ist Folgendes: In der gesamten Golfregion, ganz besonders im Irak, hat ein Massensterben begonnen, das noch Jahre andauern wird — und bisher sind keinerlei ernsthafte Versuche von der „internationalen Völkergemeinschaft“ unternommen worden, um dieses Massensterben zu verhindern; im Gegenteil, die Sanktionen der UN werden zu einem großen Teil aufrechterhalten. Es ist vor allem ein Massensterben der Kinder.
[...] Nach einer Harvard-Studie werden in den nächsten fünf Jahren im Irak 170.000 Kinder an den Folgen dieses Krieges sterben. Einem Unicef-Bericht zufolge sind in der ganzen Region fünf Millionen Kinder vom Tod an Wasser- und Nahrungsmangel und Krankheit bedroht.
Das ist das wahre Gesicht des Golfkrieges. Die Kinder, die die Konsequenzen tragen, haben am allerwenigsten Schuld — diejenigen, die verantwortlich sind, bekommen die Konsequenzen am wenigsten zu spüren.
[...] Wo sind die Schlußfolgerungen nach dem Golfkrieg? Wäre es denn nicht jetzt das mindeste, endlich die Sanktionen aufzuheben und mit der gleichen Hingabe, mit der dieser Krieg geführt worden ist, eine internationale Hilfsaktion einzuleiten? Wollen denn die Greise bei der UN in New York und Politiker in aller Welt die irakischen Kinder mit ihrem Leben für einen verlorenen Krieg zur Verantwortung ziehen?
Meine Generation erkennt zunehmend die Zeichen der Zeit — und die stehen auf Sturm. Bei ergrauten Politikern sind Gleichgültigkeit und versteckter Zynismus zur Normalität geworden. Unterstützung und Hilfe haben wir nur zu erwarten, wenn sie ins aktuelle politische Konzept passen.
Die verzweifelte Lage der Kinder im zerbombten Land des Kriegsverlierers mag als Warnung dienen, wie grausam die Auswirkungen dieser Einstellung in der Realität sind. Was wir jetzt brauchen, ist eine völkerübergreifende Solidarität aller jungen Menschen dieser Erde. Wir müssen uns selbst helfen. Lutz Kerber, Bonn
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