ESSAY: Kreuzzug gegen die Vernunft
■ Die Kampagne des Heiligen Stuhls gegen die Moderne
Ein Paradox geht um in Europa: Papst Wojtyla, der Papst eines erklärten obskurantistischen Kreuzzuges gegen den kritischen Geist und das Erbe aus der Zeit des Lichts, erhält von den verschiedensten Seiten Beifall als einzige Stimme des Dissenses vom realexistierenden „Bourgeois“ und wird als letzter Kritiker in Kultur und Gesellschaft gelobt. Als letzter Maitre à penser, der sich abhebt vom Pragmatismus im Gefolge des Niedergangs der Großideologien.
Mehr noch. Die Stellungnahmen von Johannes Paul II. im Golfkrieg und mit seiner jüngsten Enzyklika centesimus annus vermeinte man die einzig klare Lesart des Falls der Berliner Mauer und seiner Folgen zu erkennen. Angesichts der neuen Apologeten des Kapitalismus und der Konvertiten des amerikanischen Lebensstils sei angeblich der Nachfolger auf dem Stuhl Petrus' der einzige, der die Widersprüche und Grenzen des Okzidents auch nach der antikommunistischen Revolution von 1989 und nach dem Ende des Totalitarismus benenne.
Diese merkwürdige Liebe wird offensichtlich auch nicht durch die hysterischen Angriffe erschüttert, die von Papst Johannes Paul II. auf seiner letzten Polen-Reise vorgebracht wurden. Da hatte er behauptet, Abtreibung und Völkermord stünden auf einer Ebene und seien gleich schlimm. Und kein Parlament hätte das Recht, die Volkssouveränität ernst zu nehmen und sich frei Gesetze zu geben, denn in jedem Falle müsse man Gottes Gesetz gehorchen (also das, was der Papst in Rom als göttlichen Willen verkündet). Woher aber die Sympathie, die Wojtyla in fortschrittlichen Kreisen genießt?
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Die „subversive“ Botschaft des Papstes ist im Kern diese: Der Okzident ist kein Garten Eden der Menschenrechte, die Niederlage des Kommunismus im Osten verringert nicht die Schuld des Westens und löscht auch nicht die Widersprüche seines Egoismus aus. Der Westen hat es nicht vermocht, den Frieden zu garantieren; der reiche Norden beutet den immer ärmeren Süden aus. Es gelingt ihm noch nicht einmal nach innen, so etwas wie Gerechtigkeit zu gewährleisten, denn die westlichen Gesellschaften, zersetzt von Konsumismus und Hedonismus, produzieren Marginalisierung, steigende materielle und moralische Armut.
Um so glaubwürdiger die Stimme des römischen Pontifex, gehört er doch zu denen, die sich das historische Ende des Kommunismus ans Panier heften können. Die Stimme des Siegers mithin, keines Ressentiments verdächtig, aber in der Lage, billigen Triumphalismus zu meiden.
Und dennoch. Dieses Image eines nachdenklichen Triumphators, bei dem sich Toleranz und Gewißheiten mischen, ist Resultat von interessegeleiteten Mißverständnissen und verbreiteten Verdrängungen (im Sinne Freuds). Sehen wir uns das ein wenig genauer an.
„Willst du den Frieden, dann achte das Gewissen eines jeden Menschen“, lautet der, vielversprechend kantianische, Titel der Botschaft vom 19. Dezember 1990, mit der der Papst den Weltfriedenstag für das nächste Jahr ankündigte. Wojtyla als Paladin der Gewissensfreiheit eines jeden einzelnen. Aber diese Freiheit wird gleich darauf einer zerstörerischen Metamorphose unterzogen: In der Realität bedeutet sie vor allem Religionsfreiheit, die die Freiheit überhaupt erst sicherstellen würde. Damit wird die religiöse Erziehung unabdingbar, eben um die Gewissensfreiheit zu garantieren: „Die Herausbildung des Gewissens bleibt unvollständig, wenn eine religiöse Erziehung fehlt (lies: römisch-katholische, d. A.). Wie kann ein junger Mensch die menschliche Würde in ihrer Fülle begreifen, wenn ihm die Kenntnis der Quelle dieser Würde fehlt, eben des göttlichen Schöpfers?“
Zweiter Abschnitt: Die Gewissensfreiheit ist nur in Relation zur objektiven Wahrheit zu rechtfertigen: „Der Gehorsam gegenüber der göttlichen Wahrheit ist erste Bedingung der Freiheit“ (centesimus annus, par. 41). Und das ist so zu verstehen, daß diese Wahrheit diejenige der Heiligen Römischen Kirche ist. Gewissensfreiheit wird also in dem Maße möglich, wie man auf Meinungsfreiheit verzichtet.
Die wahre Freiheit ist Gehorsam. Diese Fahne wehte schon über Orwells Animal farm — und über den noch wesentlich phantasieloseren „Farmen“ des realexistierenden Sozialismus.
Einer analogen Metamorphose unterliegt das Prinzip des Laizismus. Konstant findet man in den Texten des Papstes die Verurteilung der religiösen Fundamentalismen, die mit Hilfe der bürgerlichen Gesetzbarkeit und des staatlichen Gewaltmonopols ihre Vorschriften durchsetzen wollen. Aber das gilt natürlich nur für die anderen Religionen. Die Ansichten der Römischen Kirche zu Abtreibung, Scheidung, Verhütungsmitteln und Pornographie müssen vom Arm der weltlichen Macht durchgesetzt werden, denn es sind ja keine Ansichten, sondern „Naturgesetze“. Die Neutralität des Staates gegenüber den religiösen Konfessionen hat sich in ihr Gegenteil verkehrt.
Wojtyla beruft sich sogar auf die Verweigerung aus Gewissensgründen und zivilem Ungehorsam, wenn er die Apotheker aufruft, Pille und Präservative nicht zu verkaufen. Aber hier können Frivolität und Unverhältnismäßigkeit schon kein Erstaunen mehr hervorrufen.
Und welchen Sinn macht es, von der Würde des Menschen zu sprechen, wenn jede Form der Geburtenkontrolle in der Dritten Welt, die unabdingbare, wenngleich nicht hinreichende Voraussetzung wäre, daß die Kinder von Rio oder Mexico City nicht unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen, als Völkermord abgestempelt wird?
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Extra Ecclesiam nulla salus. Früher beließ man es dabei. Wojtyla nimmt jetzt jedoch sogar in Anspruch, daß es außerhalb der Kirche nicht einmal Freiheit und wirkliche Humanität gebe. Entweder ist der Mensch ein apostolischer Katholik, oder er ist nicht. Nie hat der Integralismus fröhlichere Urständ gefeiert als hier.
Und im übrigen haben für den Papst die Laster des Kommunismus und der westlichen Gesellschaft dieselbe böse Wurzel: das kritische Denken, die Aufklärung, den Rationalismus und den Atheismus. Und von seiner ersten Enzyklika an (Redemptor hominis, 1979) wurden Abtreibung und Naturzerstörung — als die großen Verbrechen unserer Zeit — auf dieselbe Stufe wie Folter und Vernichtungslager gestellt. Tatsächlich ist das wahre Verbrechen für Wojtyla nur eines: Der Anspruch des Menschen, sich sein Gesetz selber zu setzen, also die Autonomie (und Kant).
Gehen wir in die Vergangenheit zurück. Vor 89 (das andere, wohlgemerkt). Darauf zielt die Reevangelisierungskamapagne von Karol Wojtyla, und der Untergang des Kommunismus ist nur die erste Etappe. Es geht also nicht um einen Kreuzzug gegen die Moderne, weil sie ihre Versprechen nicht eingehalten hat. Es geht vielmehr um einen obskurantistischen Kreuzzug gerade gegen diesen Entwurf, von dem behauptet wird, er sei bereits verwirklicht — und der doch die große Aufgabe der Gegenwart ist. Es geht um einen Kreuzzug, der angesichts der verfehlten Emanzipation nichts als neue ideologische Knechtschaften und beruhigenden Gehorsam verspricht.
Wenn so große Teile der europäischen Linken nicht in der Lage sind, Papst Wojtyla zu widerstehen, dann ist der Grund dafür kein Geheimnis. Die Linke hat ihre „Kopernikanische Wende“ bis jetzt noch nicht vollzogen: die Aufgabe einer Sicht auf die Welt, die nichts als ein „laizistisches“ Surrogat der Erlösungsidee und der Vorsehung war — und eine vorbehaltlose Entscheidung für die Endlichkeit des konkreten Individuums und eine Leidenschaft für das Relative.
Aber die Entscheidung kann nicht die zwischen dem Okzident, so wie er in seinen nicht erfüllten Versprechen ist, und der Revanche Gottes, also der negierten Moderne, verlaufen. Gegen eine Ideologie, die nur das Individuum gepredigt, in Wirklichkeit aber die Massengesellschaft produziert hat, geht es darum, eine Praxis zu wagen, die, wie Camus hofft, das Individuum möglich machen würde: solitaire — solidaire. Paolo Flores d'Arcais
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