: Ostler lernen, wie man pfändet
■ Ein Crash-Kurs bildet Ostberliner zu Gerichtsvollziehern aus/ Die Ausbildung dauert statt 18 nur neun Monate/ Die Nachfrage ist erstaunlich gering/ 120.000 Altakten gibt es zu bearbeiten
Berlin. Wenn der Gerichtsvollzieher erscheint, bedeutet dies meist nichts Gutes. Er will Geld, was der Schuldner nicht hat. Der Gerichtsvollzieher antwortet mit dem Kuckuck oder gleich dem Abtransport von Gebrauchsgegenständen in die Pfandkammer.
Anders gingen die Westberliner Gerichtsvollzieher nach der Vereinigung vor. Sie machten sich zwar in den Ostteil der Stadt auf, im Gepäck aber hatten sie ein ganz besonderes Angebot: einen Crash-Kurs. Wer ihren Job erlernen will, der muß als Ostler nur neun Monate die Schulbank drücken — normalerweise sind es 18. Ganz uneigennützig taten sie dies nicht, waren doch die Ostberliner Gerichte der Abwicklung zum Opfer gefallen. Zwei Drittel der 180 Gerichtsvollzieher West mußten nun zusätzlich den Osten übernehmen. Jedes Westberliner Amtsgericht erhielt seine Partnerbezirke im Osten. Außen vor blieben lediglich, so Obergerichtsvollzieher Gerd Schultz, »die Fußkranken und über 50jährigen«. Kein haltbarer Zustand auf Dauer. Denn nun betreuten Schöneberger Gerichtsvollzieher wie Gerd Schultz auch Hellersdorf, Hohenschönhausen und Marzahn. Gerd Schultz kam so in den ersten fünf Monaten auf rund 80 Fälle.
Insgesamt gilt es 120.000 Altakten abzuarbeiten, von denen 70.000 allerdings gleich in den Reißwolf wandern werden — denn hier sind Schuldner oder Gläubiger nicht mehr zu ermitteln.
Die Politik indes reagierte schnell. Der Hauptausschuß des Abgeordnetenhauses bewilligte 60 Stellen für ein Jahr. Doch der große Ansturm auf die Crash-Kurse blieb aus. Gerade fünf Frauen besetzten die ersten 15 Plätze.
So auch Simone Lehmann, 25 Jahre alt. Sie arbeitete vorher als Justizsekretärin für Arbeits- und Familienrecht in Ost-Berlin. »Nach einem Monat Wartestand wollte ich mich nachschulen lassen und rutschte so in diesen Zweig der Gerichtsbarkeit«, erzählt Simone Lehmann. Nun sieht sie langsam die Selbständigkeit am Horizont auftauchen. Noch drei Monate Praxisausbildung bei Obergerichtsvollzieher Gerd Schultz und dann hat sie es geschafft.
»Praxisabschnitt beim Gerichtsvollzieher« und »Hauptlehrgang beim Amtsgericht« heißen ihre bisherigen Stationen. Doch Bilanz will Simone Lehmann noch nicht ziehen. »Ich muß sehen, wie sich die Sache entwickelt.« Bisher hat sie sich allein mit der Materie vertraut gemacht und den bundesdeutschen Paragraphen- dschungel durchforstet. Für sie ist alles noch »ganz neu«. Wenn Simone Lehmann dann am 1. Oktober ins kalte Wasser springen wird, springt sie jedoch nicht — wie ursprünglich geplant — in den Ostteil der Stadt. Ihr Einsatzgebiet wird der Westen sein.
Denn im Osten, befürchtet Gerd Schultz, könnte es zu erheblichen Spannungen kommen, wenn die fünf Damen beispielweise bei einem arbeitslosen Marzahner versuchen, den Kuckuck anzubringen, beziehungsweise das Geld einzutreiben. Den fünfen stünde da die Tatsache im Wege, daß sie allesamt Angestellte der DDR-Justiz waren.
Simone Lehmann wird also im Westen ihr Büro aufmachen müssen. Doch damit nicht genug. Ihr Gehalt richtet sich nach ihrer Herkunft und macht somit 60 Prozent einer vergleichbaren Westlerin aus, das bedeutet 1.100 Mark netto für die Wohnungs- und Büromiete sowie für andere laufende Kosten. Sicherlich kaum genug angesichts der Explosion gerade auf dem Gebiet der Gewerbemieten. Doch die angehende Gerichtsvollzieherin stört das niedrige Gehalt nicht. Sie sieht allein, daß das Schreckgespenst von Warteschleife und Arbeitslosigkeit verjagt ist. Und außerdem betrachtet sie diesen Beruf als einen mit Zukunft.
Gerd Schultz, den Simone Lehmann bei jedem Satz fragend und Zustimmung erheischend ansieht, kann sich auf Dauer »eine Zweiklassenteilung der Beamtenschaft nicht vorstellen«. Für die Zukunft sieht er die Gleichstellung der West- und Ostkollegen.
Allerdings zweifelt er inzwischen am Sinn des angebotenen Kurses. »Wir hatten mehr Interessenten erwartet.« Für die fünf, die dann auch noch im Westen arbeiten werden, lohne der Aufwand nicht. Andreas Jöhrens
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen