: Es gibt keinen kollektiven Staatstäter — Schuld ist immer individuell
■ In Berlin-Moabit sitzen derzeit durchaus nicht die Falschen auf der Anklagebank — es sitzen zu wenige dort/ Der Strafprozeß ist kein politisches Tribunal
Es ist fünf Jahre her: gemeinsamer Familienausflug „in den Osten“, zwei Autos voller Kinder, Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße, Visum-Schwierigkeiten, Warten. Die Kinder steigen aus, spielen Fangen. „Ab ins Auto“, brüllt ein blutjunger Soldat. Ich höre weg, die Kinder sowieso, immer wilder jagen sie sich über den Vorplatz — immer mehr Richtung Mauer. Der Grenzer ist machtlos. Plötzlich rennt er auf mich zu und flüstert: „Holen Sie die Kinder zurück, Sie wissen nicht, was Sie tun! Ich kann für nichts garantieren!“ Dem Soldat steht Schweiß auf der Stirn.
Was ich einfach nicht wissen wollte — die Realität des „Schießbefehls“ —, war diesem jungen Wehrpflichtigen gegenwärtig. Er konnte für seine Genossen auf den Wachtürmen nicht garantieren, fürchtete ihre nervösen Finger am Abzug, er hatte Angst um unsere Kinder.
Honecker-Besuch darf nicht gefährdet werden
Bevor Chris Gueffroy im Februar 1989 an der Berliner Mauer starb, war zwei Jahre lang kein tödlicher „Grenzzwischenfall“ geschehen. Honecker war in Bonn, Saarbrücken und München empfangen, ein Milliardenkredit listig eingefädelt worden; die SPD forderte die Schließung der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter, die liberale 'Zeit‘ tutete ins selbe Horn.
Heute wird jedem der vier Angeklagten in Moabit unerbittlich die Frage gestellt: „Haben Sie etwas von ,Salzgitter‘ gehört?“ Und: „Sie mußten doch wissen, daß wir Ihre Taten als Unrecht registrierten!“ Wenn überhaupt, dann haben die Angeklagten gehört, daß sich die öffentliche Meinung der Bundesrepublik zu erheblichen Teilen dafür stark machte, dieses „Relikt des Kalten Krieges“ abzuschaffen...
Als Jugendliche in Ost-Berlin 1987 anläßlich eines Rockkonzerts vor dem Reichstag die Öffnung der Grenze forderten und mit der Polizei aneinandergerieten, mahnte der deutschlandpolitische Sprecher der CDU/CSU: „Der Honeckerbesuch darf nicht gefährdet werden.“ Und am 2. August 1989 verzichteten selbst die Springer-Zeitungen darauf, die DDR in die bis dahin obligatorischen Gänsefüßchen zu setzen. Gueffroy und Gaudian wurden auch die Opfer der allseitigen Entspannungspropaganda: Sie rechneten nicht damit, daß noch geschossen werde, bereiteten sich innerlich auf diese Situation nicht vor. Im ungünstigsten Fall, so spekulierten sie, würden sie festgenommen, verurteilt, freigekauft...
„Wer frei von Schuld ist“, so schreibt der ostdeutsche Bürgerrechtler Rolf Henrich zum sogenannten Mauerschützen-Prozeß, „der hebe den ersten Stein.“ Anders ausgedrückt: Dieser Prozeß kann kein Prozeß der Westdeutschen gegen die Ostdeutschen sein, vielmehr muß in diesem Verfahren individuelle, staatliche und gesellschaftlich-politische Schuld erörtert und gegeneinander abgewogen werden. Der Prozeß ist deswegen kein politisches Tribunal, Ziel ist es, den gewaltsamen Tod eines einzelnen Menschen aufzuklären und zu ahnden.
Seit fast drei Wochen verantworten sich die vier jungen Ex-DDR- Soldaten nun vor Gericht dafür, daß sie einen anderen, fast gleichaltrigen jungen Mann an der Grenze in Berlin-Treptow erschossen. Einerseits handelten die vier — und das ist unbestritten — in Ausübung ihres Dienstes als Soldaten, sie waren „die letzten Glieder einer langen Befehlskette“. Andererseits hatten sie einen individuellen Erkenntnis- und Entscheidungsspielraum. Auch das ist unbestritten. Zumindest das geschriebene DDR-Recht verlangte ihnen das ab, was wir vielleicht Verhältnismäßigkeit der Mittel und Rechtsgüterabwägung nennen.
Kollektivistisch flankierte Lebenswelten
In gewisser Weise stehen die Angeklagten exemplarisch für Staat und Gesellschaft der ehemaligen DDR. Sie gingen zur Volksschule, heirateten früh, ihr Leben verlief in äußerlich geordneten, übersichtlichen Bahnen. Alle vier keine 150prozentigen Träger der Staatsidee, waren sie doch zufrieden — mit sich und den Verhältnissen. Schießübungen forderten ihren Ehrgeiz, Schützenpanzer fahren machte einfach Spaß, Gesetze haben sie nie gelesen, vor Polizei und Gefängnis hatten sie gehörigen Respekt, Zweifel, offener Ungehorsam waren ihnen fremd; Kriegsdienstverweigerung, Pazifismus, Opposition und Friedensandacht lagen außerhalb ihrer provinziell begrenzten, vielfach kollektivistisch flankierten Lebenswelt.
Aber: Keiner der vier wollte einen Menschen erschießen. Jeder hatte sich gewünscht, den doch etwas anrüchigen, aber eben nicht unangenehmen Grenzdienst mit „weißen Händen“ hinter sich zu bringen. Bewußte Vorentscheidungen, wie sie sich verhalten würden, wenn ... haben alle vier nicht getroffen.
Alle vier haben diese Situation verdrängt und handelten dann, als es wider Erwarten soweit war, chaotisch oder einfach so, wie sie es beim Schießen auf bewegliche Pappkameraden an einer naturgetreu nachempfundenen Staatsgrenze gelernt hatten — Note 1, das war der Schuß ins Schwarze. Mit einiger Wahrscheinlichkeit feuerte in der kalten Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 der Angeklagte Ingo Heinrich genau diesen Schuß. Er traf ins Schwarze, in das Herz des Chris Gueffroy. Nachdem bereits einige Schüsse gefallen waren, kniete der Schütze in 35 Meter Entfernung nieder, stützte den Ellenbogen vorschriftsgemäß aufs Knie, legte die Kalaschnikow an, zielte, schoß. Ob dieser Angeklagte weniger reflexhaft handelte als die anderen, ist durchaus fraglich.
Heinrich erhielt den Befehl zum Schießen von seinem Postenführer Schmidt: „Wir müssen schießen, schieß!“ Während der Befehlsgeber zitternd einfach nicht imstande war, den Finger am Abzug seiner Pistole zu krümmen, rettete sich Heinrich in die totalitäre Illusion des Schießplatzes, tat genau das, was ihm systematisch antrainiert worden war. Zwei Schüsse trafen die beiden Flüchtenden in die Füße. Alle anderen gingen daneben.
Als Chris Gueffroy erschossen wurde, war es kurz vor Mitternacht, „die Ablösung war bereits in Sicht“, die vier Soldaten wußten, daß sie im Blick- und Wahrnehmungsfeld ihrer Vorgesetzten handelten. Hätten sie sich genauso verhalten, wenn der Grenzdurchbruch zwei Stunden früher versucht worden wäre? Die Angeklagten werden es wohl selbst nicht wissen.
Was bisher über das Benehmen der Vorgesetzten im Prozeß zutage gefördert wurde, ist widerlich und ekelhaft. „Das Schwein muß sowieso sterben“, sagte der eine, „ihr habt genau richtig gehandelt“ der andere. Ihr Verhalten gegenüber dem Verletzten und dem Sterbenden verdient nichts als Abscheu — es war nicht „von Honecker befohlen“, öffentlich wird es nur mit Hilfe dieses Strafprozesses. Diese Vorgesetzten bestimmten das Klima in der Truppe, prägten die konkrete Realität in einem bestimmten Grenzabschnitt.
Schuld ist immer individuell
Es bleibt das Geheimnis der Staatsanwaltschaft, warum sie in diesem Verfahren nicht auch die unmittelbar beteiligten Vorgesetzten anklagte und darauf verzichtete, in das diffuse Halbdunkel von Befehl und Gehorsam mehr Licht zu bringen, es zum Gegenstand des Strafverfahrens zu machen.
In Berlin-Moabit sitzen derzeit durchaus nicht die Falschen auf der Anklagebank — es sitzen zu wenige dort. Schon in den NS-Verfahren zeigten sich die bundesdeutschen Strafjuristen (im höchsteigenen Interesse) gehemmt, die Funktionseliten des Unrechts, z.B. den Marinerichter Filbinger, zur Verantwortung zu ziehen. Das staatlich-arbeitsteilig organisierte Unrecht kann aber nur dann sichtbar und justitiabel werden, wenn dementsprechend viele (Mit)täter zur Rechenschaft gezogen werden.
Geheimnisvoll bleiben aber auch die prozeßstrategischen Ziele einzelner Verteidiger. Sie verfahren nach dem in Deutschland bewährten Prinzip des Panzergenerals Guderian: „Nicht kleckern — klotzen!“ Sie stellen Antrag um Antrag, lassen die Grenzen zwischen Fernsehen und Gerichtssaal verschwimmen, machen die Angeklagten zu dem, was sie schon zu oft waren — zu Objekten. Neuerdings werfen sich die Matadore auf der Verteidigerbank gar gegenseitig „geradezu unstillbare Geltungssucht“ vor.
Im Kern sind viele ihrer Anträge vernünftig. Sie zielen darauf, die (rechts)politischen Implikationen des Falls besser auszuloten. Zwar braucht sich das Gericht nicht der eher absurden Forderung eines Verteidigers anzuschließen, mehrere hundert Meter Akten der DDR-Militärjustiz und des Auswärtigen Amtes in Bonn „zum Gegenstand des Verfahrens zu machen“, vernünftig wäre es aber, ein juristisches Gutachten zum Thema „Recht und Rechtspraxis“ in der früheren DDR in die Hauptverhandlung einzuführen und ein zeitgeschichtliches Gutachten zum Thema „Kalter Krieg/Entspannung/,Eiserner Vorhang‘“.
In diesem Sinne ist es erforderlich, daß die neue gesamtdeutsche Öffentlichkeit diesen Prozeß selbstkritisch-fragend begleitet. Der Prozeß um den gewaltsamen Tod eines einzelnen Menschen ist kein Schauprozeß. Sowohl das Gericht wie auch die Staatsanwaltschaft tun viel dafür, daß er nicht dazu wird.
Einige Verteidiger und einige einschlägig beleumundeten Zeitungen und Zeitschriften versuchen diese notwendigerweise oft quälende Verhandlung zum Schauprozeß zu machen. Diejenigen Verteidiger, die im Gerichtssaal nicht müde werden, einen kollektiven „Staatstäter DDR“ zu konstruieren, nehmen ihren Mandanten damit ein Stück ihres Menschseins: Schuld ist immer individuell, niemals kollektiv: auch dann, wenn es die unterschiedliche und unterscheidbare Schuld von sehr vielen — jedenfalls weit mehr als den vier Angeklagten ist. Götz Aly
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