Die Kontrolle zerbrach an der Spekulation

Die nicht abreißende Kette der japanischen Bank- und Börsenskandale zeigt das Versagen der traditionellen bürokratischen Führungsinstrumente/ Nur die Beziehungsnetze der Gangster wurden in den Zeiten der wilden Spekulation dichter und dichter/ Die „Verfehlungen“ sind Bestandteil des Systems  ■ Aus Tokio Georg Blume

Gewöhnt waren wir an industrielle Erfolgsstories oder soziale Schauermärchen, wenn vom japanischen Finanz- und Wirtschaftswunder die Rede war. Seit etwa drei Monaten erfahren wir nun von einer neuen Version des japanischen Märchens: War die Tokioter Himmelfahrt alles in allem nur eine dreckige Gaunerkomödie? Die bis heute nicht abreißenden Enthüllungen über Regierungsbeamte, Bankdirektoren und Börsenchefs, die mit versteckten Sympathien für Nippons berüchtigte Gangstermafia Yakuza arbeiteten, lassen von weitem betrachtet kaum einen anderen Schluß zu: Japans Wirtsschaftselite und die Yakuza lebten in ein und demselben Fürstenschloß der legendären Tokioter Finanzmacht.

Die japanischen Skandale sind keine lokale Angelegenheit. Mit der Festnahme von Akira Akagi, Mehrheitsaktionär des schwäbischen Nobelschneiders Hugo Boss, mußten erstmals auch viele Bundesbürger erfahren, daß die versponnenen Fäden der japanischen Wirtschaftsverbrecher bis hinein in die deutschen Kleiderschränke reichen. Wen kann es da noch wundern, daß die OECD, Beratungsgremium von 24 Industriestaaten, in dieser Woche vor den bedenklichen Folgen der Tokioter Ereignisse für das weltwirtschaftliche Klima warnte?

Gern weisen japanische Regierungsbeamte derweil daraufhin, daß sie mit ihren Problemen auf der Welt nicht alleine stehen. Der BCCI- Skandal in London, die schrägen Geschäfte der Salomon Brothers in New York und nicht zuletzt Aktienschiebereien an der Frankfurter Wertpapierbörse kamen den Betroffenen in Tokio gerade recht, weil sich die internationale Aufmerksamkeit damit ablenken ließ. Tatsächlich blieben bisher die Reformvorhaben, die aus den japanischen Skandalen entstanden, eine weitgehend innenpolitische Angelegenheit.

Ausgerechnet in den Tagen nach dem Moskauer Putschversuch verliefen in Tokio jene Verhöre folgenlos, die zu normalen Zeiten vor das Gericht einer Weltöffentlichkeit gehört hätten. Denn zum ersten Mal traten hier die wahrhaftigen Protagonisten der japanischen Wirtschaftsmacht unter Eid vor einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß, um unter Meineid über ihre illegalen Geschäfte und Beziehungen zur Gangsterwelt auszusagen. Kein Verhör des Oliver North und kein Prozeß des Gennadi Janajew hätten einer größeren internationalen Aufmerksamkeit bedurft als die zwielichtigen Einlassungen jener, die heute über die Macht in den weltgrößten Banken und Wertpapierhäusern verfügen.

Roh Kurosawa etwa, der bislang von allen gelobte Chef der Industrial Bank of Japan — jener Bank, die als wichtigstes Instrumentarium der japanischen Industriepolitik gilt, weil sie ihre Gelder konsequent in die konkurrenzfähigsten Wirtschaftszweige pumpt —, mußte vor der Volksvertretung persönliche Beziehungen zu einer Dame eingestehen, die inzwischen des Milliardenbetrugs am Hause Kurosawas und der Zusammenarbeit mit der Yakuza überführt ist. Für kritische Blicke nicht minder spektakulär waren die Aussagen Setsuya Tabuchis, ehemals Konzernleiter des weltgrößten Wertpapierhauses Nomura. Er gestand schließlich ein, Anweisungen des Finanzministeriums nicht befolgt zu haben und direkt im Auftrag eines Yakuza-Chefs tätig geworden zu sein.

Allen Skandalen gemeinsam ist dabei ein undurchsichtiges Netz persönlicher Beziehungen, daß von der Yakuza bis zu den höchsten Persönlichkeiten des Establishments reicht. Auch im Fall des Hugo-Boss-Besitzers Akira Akagi reichen die Verbindungen bis zum persönlichen Sekretär des noch amtierenden Finanzministers Ryutaro Hashimoto, der mit den gleichen gefälschten Dokumenten wie Akagi Kredite aufnahm.

Plötzlich werden Westfirmen umworben

Solch unverschämte Geschichten ließen sich noch viele erzählen. Besonders ausländische Broker und Bankiers, die in Tokio seit jeher nur mit Mühe Tritt fassen, können sich darüber amüsieren. Sie werden nun bei ihren japanischen Geschäftspartnern, von denen kaum ein großer Name mehr unbefleckt blieb, mit Verbeugungen, Entschuldigungen und der Bitte empfangen, die Beziehungen doch nach aller Möglichkeit nicht abzubrechen.

Tatsächlich bot die weitverbreitete Mißgunst, der nach den Enthüllungen vor allem die vier großen Wertpapierhäuser Nomura, Nikko, Daiwa und Yamaichi unterlagen, eine kurzfristige Chance für westliche Broker, neue Kunden und größere Anteile am Tokioter Börsengeschäft zu gewinnen. Nach Berechnungen der US-Firma Jardine Fleming bestreiten ausländische Broker derzeit 20 Prozent des Tokioter Börsengeschäfts — vor den Skandalen waren es nur fünf Prozent.

Die ausländischen Finanzunternehmen in Tokio erhoffen sich noch einen weiteren Vorteil von den Ereignissen: die Verabschiedung eines neuen japanischen Börsengesetzes, das ihnen größere Wettbewerbschancen verspricht. Vergangene Woche legte eine unabhängige Expertenkommission der Regierung einen Gesetzentwurf vor, der erstmals die Einrichtung einer halbwegs unabhängigen Kommission zur Überwachung des freien Wettbewerbs an der Börse vorsieht. Bisher nimmt diese Aufgabe das Finanzministerium wahr.

Finanzminister Ryutaro Hashimoto und sein Haus stehen seit Beginn der Enthüllungen im Rampenlicht der Kritik. „Die Skandale“, schreibt Japans führende Wirtschaftszeitung 'Nihon Keizai‘, „wurden durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren verursacht: Die Abwesenheit des Wettbewerbs (die zu übergroßen Profiten führt), gesetzliche Großzügigkeit gegenüber betrügerischen Handelspraktiken, zweideutige Regeln und ein schlechtes Überwachungssystem.“

Sämtliche Kritikpunkte, die die Zeitung in ihrer Großabrechnung aufführt, zielen auf das Finanzministerium. Das nämlich ist verantwortlich für die Aufstellung und Einhaltung fairer Wettbewerbsregeln, soll Delikte aufspüren und sie auch bestrafen. Weil sich in dieser Kompetenzvielfalt die Aufgaben von Legislative, Exekutive und Judikative mehrfach überschneiden, hat man die japanische Organisation des Finanzmarktes mit dem Begriff der „Verwaltungsherrschaft“ (Gyosei- shido) charakterisiert.

Deutlich verfaßte Gesetze und klare Verhaltensregeln schließt dieses System, das schon lange vor dem zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, aus. Stattdessen sind Finanzinstitutionen bei vielen Unternehmnungen auf das Wohlwollen der Beamten angewiesen — etwa beim Aufkauf neuer Firmen, bei großen Kreditabschlüssen oder beim Erwerb von Marktlizenzen. Für das leichte Einverständnis zwischen den Parteien sorgt dabei eine gut gepflegte Personalpolitik, die es Beamten des Finanzministeriums nach der Pensionierung mit 50 Jahren ermöglicht, in hohe Positionen der Banken und Wertpapierhäuser überzuwechseln. Junge Beamte des Finanzministeriums haben es dann in Verhandlungen mit ihren privaten Klienten meist mit ehemaligen Vorgesetzten zu tun.

Derart wohlkalkulierte Personalverflechtungen zwischen Staat und Privatwirtschaft liefern bis heute einen wichtigen Schlüssel zur Erklärung der so erfolgreichen japanischen Industriepolitik in diesem Jahrhundert. Ebensolche Personalverflechtungen — zumal wenn sie bis zur Yakuza reichen — geben heute allerdings auch den Anlaß, die Skandalgeschichten der Wirtschaftsoberen nicht mehr nur als Episode, sondern als systemimmanent zu begreifen. Ausgerechnet der ebenso mächtige wie konservative Unternehmerverband Keidanren hat diesen Widerspruch in einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Positionspapier festgehalten: „Das profitorientierte Management, die extremen Konkurrenzsituationen zwischen den ganz großen Firmen, die von der Verwaltung abhängigen Firmenleitungen und die undurchsichtigen Verwaltungsregeln, also all das, was man bisher als die Stärke der japanischen Wirtschaft bezeichnet hat, hat sich im Zeichen von Börsenexplosion und Finanzspekulationen als Nachteil erwiesen.“ Eine sonst nur seltene anzutreffende Selbstkritik klingt in dieser Stellungnahme des Keidanren durch.

Das japanische System, so ließe sich der Befund kürzer formulieren, ist außer Kontrolle geraten. Ausgangspunkt der Entwicklung ist der „Plaza Accord“ von 1985, das Übereinkommen der westlichen Finanzminister, den Yen gegen den Dollar zu stärken, um damit den japanischen Außenhandelsbilanzüberschuß (damals insbesondere gegenüber den USA) herunterzudrücken und den japanischen Binnenmarkt zu stärken. Der starke Yen ermöglicht es in der Folge, die Zinsen in Japan zu senken und den Geldumlauf zu steigern, damit die Unternehmen mehr investieren.

Das geschah tatsächlich, gleichzeitig avanciert Tokio zur größten Börse der Welt, und als Nebenerscheinung blüht in Japan die Bodenspekulation. Die Geschwindigkeit der Entwicklung überstrapazierte dabei jedoch die langwierigen Verwaltungsmechanismen der Bürokratie. Zuvor war es eher die Regel als die Ausnahme, daß sich Beamte des Staates und Manager, insbesondere der Geldhäuser, regelmäßig trafen, um sich bei wichtigen Fragen miteinander ins Benehmen zu setzen — ungleich bedeutungsvoller als die Bilanz- oder Buchprüfer, die die Firmen im Westen heimsuchen. Doch dieses System der wechselseitigen Abstimmung war mit dem rapiden Wachstum der Geld- und Kapitalmärkte überfordert. Personell wurden die einschlägigen Ministerialabteilungen nicht aufgestockt, während andererseits die Geldgeschäfte nach Umfang und Zahl immer mehr zunahmen — an vielen Stellen riß das traditionelle, informelle Beziehungsgeflecht.

Regelverletzungen und Betrügereien kommen erst jetzt wieder ans Tageslicht, seit die Zinsen erneut steigen, der Selbstlauf der Tokioter Börse jäh geeendet hat und der Geldzufluß sinkt. Das Ende der Boomjahre ist zugleich die Zeit der gegenseitigen Abrechnungen zwischen Investoren und Wertpapierhäusern, zwischen den Banken und ihren Kreditkunden. Jetzt stellt sich heraus, wer wen betrogen hat; wenngleich die Öffentlichkeit wohl nur die Spitze des Eisbergs, den Betrügergipfel um Nomura und die Industrial Bank of Japan erblickt.

Wie aber reagieren die Institutionen? Werden sie im alten Rhythmus wieder Fuß fassen oder dem Erneuerungsdruck der Skandale zumindest teilweise nachgeben? Statt neuer Gesetze nach westlichem Modell predigen viele der Protagonisten heute Selbstheilungsmaßnahmen in buddhistischer Tradition. Erst zu Beginn der Woche setzten sich die wichtigsten Bankenchefs des Landes zusammen, um den Regelkodex ihrer Unternehmen zu straffen. Sie versprachen ernsthaft, in Zukunft das Vertrauen des Kreditkunden besser zu überprüfen und die wahllose Kreditvergabe zu stoppen, und beteuerten nicht minder überzeugt, daß es neuer Regierungsmaßnahmen nicht bedürfe.

Derartige Versprechen wären in der Regel nicht einmal der Erwähnung wert — hätte man die japanische Kraft der Selbstregulation nicht schon oftmals unterschätzt. Ähnlich wie einst die Ölkrisen der siebziger Jahre und zuletzt die Yen- Aufwertung nach dem Plaza Accord, haben der Börseneinbruch samt der andauernden Skandalwelle ein Krisenbewußtsein innerhalb der Tokioter Machtelite entstehen lassen. In solchen Situation hat sie schon oft einen großen Sprung gemacht.

Lieber Spekulation als Produktion

Viele japanische Industrieunternehmen haben in den letzten Jahren mit der Ausstellung von Optionen und ähnlichen wertpapiergebundenen Geschäften leichteres Geld als mit der täglichen Produktion verdient. Ihre Prioritäten sollen sich nun wieder ändern. Sie werden, das ist absehbar, trotz hoher Zinsen an ihren Investitionsprogrammen festhalten und der Produktion Vorrang einräumen.

Die japanischen Banken werden derweil ihre Umsatzzahlen konsolidieren, um nicht zuletzt auch den internationalen Anforderungen einer Eigenkapitalrate von acht Prozent gerecht zu werden. Die Tokioter Börse aber wird trotz der neuen Regelungen nicht in einen Ort des freien internationalen Wettbewerbs verwandelt werden und damit als Insiderclub von Nippons Industriegewaltigen erhalten bleiben.

Für die übrige Welt erwächst damit nach der Beunruhigung über die Skandale ein zweiter Grund zur Sorge. Schon heute leidet die Weltwirtschaft unter der Kreditknappheit, die der Schuldenberg der Dritten Welt, das US-Budgetdefizit und der Investitionsbedarf in Osteuropa verursachen. In dieser Situation hofften viele auf japanisches Geld als Rettungsanker in der Not. Doch eine durch die Skandale ihrer Banken verschüchterte japanische Regierung wird kaum den Mut finden, weltweit größere finanzpolitische Verantwortung wahrzunehmen.

So ist es letzlich eben nicht das Märchen von der Gaunerkomödie im Tokioter Fürstenschloß, das die japanischen Vorgänge hinreichend beschreibt. Für die Europäer gibt es keinen Grund zur Schadenfreude. Ihre Kritik hat die Japaner schon oft zur übertriebenen Nabelschau verleitet, über die jeder Mensch nur allzu gern die übrige Welt vergißt. Trotz aller notwendigen Kritik an den Yakuza-Machenschaften bedarf es deshalb vor allem der westlichen Aufmunterung für Tokios Engagement — zum Beispiel, damit japanische Unternehmen endlich anfangen, beim Wirtschaftsaufbau in der Sowjetunion mitzumischen. Der Zeitpunkt dafür ist ohnehin gekommen.