PRESS-SCHLAG: Deutschland ohne Boris
■ Kein Leiden, keine Katharsis, keine Heimat
Es war eine kühle, windige, regnerische Nacht, als ich in einem Kansas-City-Motel wachlag, an die Decke starrte und nachdachte über Deutschland.
Deutschland, wie es einmal war, und Deutschland, wie es sich nun hier im wildesten Westen präsentierte. „Echt schade, daß Bobbele nicht mitspielt“, hatte das Nies bereits irgendwo zwischen Atlanta und St. Louis geseufzt, „mit ihm wär's hundertmal interessanter gewesen.“
Das erinnerte mich an jenen Schlaukopf, der während der „Stuttgart Classics“ im Februar, als Boris Becker ebenfalls passen mußte, den Satz geprägt hatte: „Tennis ohne Boris ist Federball.“ Und Deutschland ohne Boris? Liechtenstein? Oder noch schlimmer: Österreich?
Es war doch alles so schön gewesen. Ein paar Hundertprozentige voller Schwarz-rot-gold in Herz und Kehle brachten mit ihrer Botschaft vom Sieg zehntausend Cheeseburger zum schweigen, rasselten mit den 490 Rasseln des Herrn Thomas aus Wuppertal, bis US-Pausbacke Tom Gorman die Ohren abfielen, und kauften alle verfügbaren T-Shirts, Kappen und sonstigen unentbehrlichen Reisereminiszenzen auf, bis für die Eingeborenen nichts mehr übrig war. Und zu allem Überdruß opferten sie auch noch ihre sämtlichen Stimmbänder, um auch wirklich jeden Punkt der Mikes und Scharlihs und Eriche bejubeln zu können, no matter, ob „winner“ oder US-Doppelfehler.
Und doch, es fehlte was. Was? Das Leiden, die Katharsis! „Das ist mein Beruf, das ist das, was ich machen muß“, sagte ein gutgelaunter Stich nach der so bitteren Schlappe gegen den Las-Vegas-Buben Andre Agassi. Der dagegen hätte sich „dem Land gegenüber schuldig gefühlt“, wenn er verloren hätte. Und die Mission? „Wir sind diejenigen, die 110prozentig gewinnen wollen“, setzte der Michel nach und meinte sich und drei andere. Nur 110? Und warum ihr? Wir wollen auch gewinnen, tausendprozentig. So geht's einfach nicht. Einsehen, daß ein anderer „einfach zwei Klassen besser ist“, dem andern auch noch Beifall zollen für sein geniales Spiel. Als hätte das auch nur im entferntesten mit Sport zu tun. Der wollte einfach nicht verstehen, wollte einfach nicht leiden.
Das hätte es bei dem Roten nicht gegeben. Der wäre dazwischen, hätte getobt, geschwitzt, geflucht, aber vor allem gelebt. Und gesiegt, natürlich. Wenn Boris spielt, flattern doch die Fahnen wie von selbst im Takt der Haydnschen Musi, schlagen unsere Herzlein plötzlich aufgeregt, und aus unserem Tiefsten bahnt sich ein Wort seinen Weg ins Freie: Heimat! Wir sind Boris, und Boris ist wir. Und leidet für uns. Und Deutschland. Die anderen aber, an deren Namen ich mich schon kaum mehr erinnern kann, sind nur Tennisspieler. Nichts als Tennisspieler. Und was schert uns Tennis?
Es war eine kühle, windige, regnerische Nacht, als ich in einem Kansas-City-Motel wachlag und nachdachte über Deutschland.
Deutschland ohne Boris. Tennis ohne Boris ist nur Tennis, die deutschen Tennisspieler ohne Boris sind nur Tennisspieler, doch das Allerschlimmste: Deutschland ohne Boris ist nur noch Deutschland. Ein Wort. Sonst nichts. Eine Tragik sondersgleichen. Peter Unfried
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