: Heckelmann: Neuverteilung geht mich nichts an
■ Flüchtlingsberatungsstellen berichteten über »Pogromstimmung« in Hoyerswerda/ Vielfältige Protestaktionen angekündigt
Berlin. »In Hoyerswerda herrschen keine bürgerkriegsähnlichen Zustände, wie ich sie im Libanon zur Genüge erlebt habe. In Hoyerswerda herrscht Pogromstimmung.« Dem Mitarbeiter der Beratungstelle für arabische Flüchtlinge, Ralph Ghadban, versagte gestern die Stimme, als er auf einer Pressekonferenz der Asylberatungstellen, Liga für Menschenrechte und SOS-Rassismus von seinen Eindrücken in der sächsischen Kleinstadt berichtete. Auch die Präsidentin der Liga für Menschenrechte, Alisa Fuss, die die Idee zu dem sonntäglichen Solidaritätskonvoi für die Bedrohten in Hoyerswerda hatte, sprach ihre Gefühle offen aus: Sie habe sich »in das Jahr 1933 zurückversetzt« gefühlt.
Die MitarbeiterInnen der Beratungstellen waren sich darin einig, daß die rund 250 Flüchtlinge in Hoyerswerda »extrem gefährdet« seien. Sie forderten die zuständigen Landesregierungen deshalb auf, die Menschen so schnell wie möglich nach Berlin, Braunschweig und Frankfurt/Main zurückzugeholen. Von diesen Städten aus waren die Flüchtlinge Hoyerswerda zugeteilt worden. Das Vorhaben des sächsischen Innenministers Krause, die Flüchtlingsheime mit Zäunen zu umstellen und die Bewohner in eine Offiziersschule zu verlegen, wurde für unzumutbar gehalten. Die Füchtlinge müßten aus Hoyerswerda herausgeholt werden, auch wenn man damit vor der Gewalt zurückweiche, sagte Heidi Bischoff-Pflanz vom SOS-Rassimus. Sie appellierte an die Berliner Kirchengruppen, Familien und Einzelpersonen, die Menschen vorerst bei sich aufzunehmen (siehe auch Interview auf dieser Seite). Innensenator Heckelmann ließ auf Nachfrage wissen, eine mögliche Neuverteilung der Flüchtlinge sei nicht seine Sache, sondern Bundesangelegenheit.
Nasrin Bassiri vom Verein iranischer Flüchtlinge, die sich in Hoyerswerda mit armenischen Iranern, Vietnamesen und Nigerianern unterhalten hatte, berichtete, daß das Heim schon vor vier Monaten mit Molotowcocktails bombardiert worden sei. Vor lauter Angst hatten sich die Flüchtlinge nur noch zu zehnt auf die Straße getraut, um Brot zu kaufen oder zu telefonieren. Wer kein Deutsch konnte, sei auf der Post einfach ignoriert worden.
Ginka Eichle, die in der Ostberliner Dependance der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung arbeitet, berichtete von »unglaublichem Haß«, der in Hoyerswerda vor allem von 10- bis 14jährigen Kindern ausgehe: »Sie greifen die Ausländer, die seit Jahren dort arbeiten, mit Steinen an.« In der DDR habe es zwar schon immer latenten Rassimus gegeben, aber einen derartigen noch nie zuvor. Der Ausländerbeauftragte der evangelischen Kirche in den neuen Ländern, Klaus Pritzkula, forderte »eine neue Zeit der runden Tische« mit Initativen, Kirchen, Gewerkschaftern und Politikern.
Alisa Fuss wiederholte gestern ihren Aufruf, vor den Ausländer- Wohnheimen nach dem Motto »Wehret den Anfängen« Mahnwachen abzuhalten. Die Resonanz sei sehr groß. Wer teilnehmen möchte, kann sich unter der Nummer 3243688 melden. Ferner ist ein großes Konzert »Rock gegen Rechts« geplant. Interessierte Musiker sollen sich bei Netzwerk (6913072) oder SOS- Rassimus (6147990) melden.
Für die außereuropäische Flüchtlingsberatungstelle rief Renate Wilson für den 9. Oktober zum Verteilen von Flugblättern vor der Ausländerbehörde am Waterloo-Ufer in Kreuzberg auf. Die Flüchtlinge, die von hier aus in die neuen Bundesländer verteilt werden, sollten darin bestärkt werden, »massenhaft Widerspruch« einzulegen. Mit dem Bürgermeister von Hoyerswerda, der vor drei Wochen aus Nordrhein- Westfalen dorthin versetzt wurde, sei außerdem ein Forum über Rassimus in der sächsischen Kleinstadt geplant.
Das multikulturelle Frauenprojekt NOZIZWE kündigte für Anfang Oktober eine Demonstration an. Die Autonomen erwägen eine bundesweite Demonstration in Hoyerswerda. Eine Delegation aus dem autonomen Spektrum versuchte gestern in Hoyerswerda, Flüchtlinge wegen einer möglichen Rückkehr nach Berlin zu kontaktieren. plu
Siehe auch Interview Seite 24
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