: Beethoven war auch schon multikulturell
■ "Wenn du eine Menge Platten verkaufst, wird dir immer eine Chance gegeben." Ein Inerview mit dem britischen Geiger und Selbstdarsteller Nigel Kennedy
„Wenn du eine Menge Platten verkaufst,
wird dir immer eine Chance gegeben.“
Ein Interview mit dem britischen Geiger
und Selbstdarsteller Nigel Kennedy.
VON STEFAN KOLDEHOFF
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uf dem Kasten seiner millionenschweren Guarneri- Violine prangt in voller Größe das Emblem des Fußballclubs „Aston Villa“, und auf der Bühne zeigt der Geiger auch ab und an, daß dessen Wappen selbst seine Unterhosen ziert. Nigel Kennedy, 1956 im südenglischen Seebad Brighton geboren, ist zur Zeit der ungekrönte König der Klassik-Szene [Aber nur, wenn's nach der Presse und anderen Medien geht, nicht von der Qualität seiner Darbietungen! d. säzzer]. Mit seiner völlig unorthodox eingespielten Version von Vivaldis Vier Jahreszeiten gelang Kennedy, was vor ihm kein Klassikinterpret schaffte: die Platte hielt sich mehrere Wochen auf Platz drei der englischen Pop-Charts und wurde weltweit inzwischen über eine Million Male verkauft.
Vor allem die Klassik-Kritiker der älteren Semester rümpfen über Kennedys respektlos-subjektive Interpretation noch immer die Nase, verzeihen dem leidenschaftlichen Fußballfan auch nicht, daß er den Jazz genauso ernst nimmt wie seine klassischen Stücke. Daß Nigel Kennedy der Klassik zu einer bislang nicht gekannten Breitenwirkung verhalf, entschuldigt ihn in den Augen der Puristen ebensowenig wie seine technische Brillanz.
Im Frühjahr dieses Jahres gab der Musiker, der sich selbst gern einen „Fiedler“ nennt, sein erstes umjubeltes Konzert in der Frankfurter Alten Oper. Vier für September angekündigte Deutschlandkonzerte mußten verschoben werden. Kennedy holt sie im November und Dezember nach.
taz: Deine für Dezember angekündigten Deutschland-Konzerte wurden abgesagt. Warum spielst du nicht?
Nigel Kennedy: Ich mußte dieses Ding an meinem Hals entfernen lassen, das so viele Silben hat, daß ich mich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern kann. Wir nennen es „Geigerknoten“, und die Operation liegt noch nicht lange genug zurück, als daß ich schon wieder üben könnte. Nach zehn Minuten Geige spielen beginnt es wieder weh zu tun. Abgesehen davon hat mir mein deutscher Konzertveranstalter das Üben verboten, bevor die Ärzte ihr O.K. geben. Ich bin deshalb an den eigentlich festgesetzten Terminen noch nicht in der Lage, klassische Musik zu spielen. Aber ich hoffe, daß ich meine eigene Musik spielen kann, wenn ich im Dezember wieder hierher komme. Dabei kann ich die Geige tiefer am Hals halten.
Hattest du vorher zu viel gespielt?
Viel zuviel. Ich hatte diese Probleme mit dem Hals, seit ich 16 war. Aber es gab nie einen Urlaub, in dem ich die Sache hätte operieren lassen können. Als ich dann aber während meiner Tour im Juni wieder so starke Schmerzen bekam, begriff ich, daß ich etwas tun mußte. Die Ärzte meinten dann: „O.K., wir nehmen das raus, und in vier Tagen bist du zurück auf der Bühne.“ Und während sie dann operierten, hörte ich den Arzt zur Schwester sagen: „Jetzt haben wir begonnen, da müssen wir auch weitermachen“, und ich dachte: Oh mein Gott, was mach' ich auf diesem Scheiß-OP-Tisch? Dann kam ich raus und sah mit dieser Narbe aus wie Frankenstein. Du siehst also, es ist eigentlich die pure Eitelkeit, daß ich nicht spiele.
Nach dem Eingriff wird jetzt aber alles sein wie vorher?
Es wird mich wohl eine ziemlich lange Zeit kosten, zu dem Standard zurückzufinden, der verlangt wird. Weißt du: Wenn man klassische Musik spielt, muß du in der Technik spielen, die der Komponist im Kopf hatte, nicht in deiner eigenen. Ich könnte jetzt schon meine eigene Musik spielen, weil ich dabei technisch flexibler bin. Aber in der Ideologie eines anderen zu spielen erfordert eine ganz andere Technik.
In einer Konzerthalle vor 4.000 oder 5.000 Leuten zu spielen erfordert auch Kraft, und wenn du dafür noch nicht fertig bist, kannst du einen Muskel überdehnen oder etwas anderes falsch machen. Es wird dauern, bis ich wieder an der Stelle bin, die das Publikum für klassische Musik voraussetzt.
Ist dein typischer Stil denn eine Frage des Kopfes oder der Finger?
Es ist der Kopf, der die Finger kontrolliert. Nimm als Beispiel Carl Lewis oder einen anderen großen Läufer: Wenn er nicht trainieren würde, könnte er sich zwar mental vorstellen, die hundert Meter zu gewinnen, aber er würde es nicht schaffen — es bräuchte Monate zur Vorbereitung. Aber wenn du trainierst, kann der Geist übernehmen, und es gibt keine technischen Probleme mehr: Die Technik ist dann da, um dem zu dienen, was in deinem Kopf vorgeht.
Wie kannst du aber heute wissen, was Vivaldi vor 250 Jahren tatsächlich im Kopf hatte?
Nur aus seinen Noten. Das ist wie mit dieser Frage, die du mir stellst: Obwohl ich nicht weiß, was in deinem Kopf vorgeht, höre ich die Worte und weiß, was du meinst. Und als Vivaldi seine Noten aufs Papier schrieb, war das nichts anderes als deine Frage. Ich kann versuchen, in meinem Kopf zu formulieren, was er meinte, und es dann rüberbringen.
Kann aber Vivaldis Partitur nicht bestenfalls eine Antwort auf die Fragen sein, die er sich selbst stellte?
Die Partitur ist die Frage, und meine Aufführung ist die Antwort. Jeder Künstler gibt seine eigene Antwort.
Wie erklärst du den großen Erfolg deines unkonventionellen und respektlosen Stils gerade hier in Deutschland — einem Land mit großer musikalischer Tradition?
Wenn diese große Tradition richtig verstanden wird, kann sie die Vorstellung, die Menschen von Musik haben, immer wieder neu befruchten. Tradition, wie ich sie verstehe, ist nicht eine Menge alter Hüte und bedeutungsloser Konventionen. Sie sollte die Musik immer wieder neu entwickeln und aufbauen. Wenn sich also die Entwicklung gerade der klassischen Musik gerade in Deutschland ereignet hat, dann müßte es doch eigentlich der fruchtbarste und kreativste Ort für einen Künstler zum Spielen sein. Deutschland ist nicht nur das Land, in dem die klassische Musik ihre Ursprünge hat. Es gab und gibt auch viele neue Schulen, die von hier ausgehen.
Ist der klassische Musikbetrieb mit all seinen Ritualen und seinen Erscheinungsformen heute eine demokratische Angelegenheit, die jedem offensteht?
Das sollte er sein, und das ist es, was ich auf der Bühne rüberbringen will. Er stellt sich nicht immer so dar, aber ich denke, daß jede Form der Musik eine demokratische Sache ist. Du teilst Erfahrungen mit Menschen, die die gleiche Grundlage haben wie du. Wenn du Musik spielst, hast du fast so etwas wie eine Diskussion über das Wesen der Demokratie.
Wie hast du in diesem Kulturbetrieb etwa deine Plattenfirma davon überzeugen können, deiner Musikauffassung eine Chance zu geben?
Ich glaube, weil sie wußten, daß sie mich nicht einfach in einen dieser Nosferatu-Typen verwandeln konnten. So spielte ich 1984 ein Violinkonzert von Elgar ein, das eine ganze Menge Exemplare verkaufte, und damit stand die Plattenfirma auch in meiner Schuld. Ein gutes Geschäft ist ja das Hauptkriterium. Und wenn du eine Menge Platten verkaufst, wird dir immer eine neue Chance gegeben.
Mußtest du dafür in irgendeiner Form „bezahlen“, mußtest du dein Image verändern?
Wenn du dein Ego veränderst, dann würdest du auch deine Musik nicht mehr so gut rüberbekommen. Die Kommunikation zwischen mir und dem Publikum wäre gestört worden, weil ich dann nicht mehr ich selbst gewesen wäre. Ich hätte das nie gekonnt: Ich glaube an die Musik, und ich spiele sie. Aber ich könnte nie auf unehrliche Weise mit ihr kommunizieren. Ich kann nicht lügen.
Bist du noch dein eigener Herr, kannst du spielen, was du willst?
Ich bin sehr glücklich, daß meine Plattenfirma bereit ist, sich auf Abenteuer einzulassen. Ja, ich kann Jazz spielen, wenn ich Jazz spiele, und ich kann Viv (gemeint ist Vivaldi) spielen, wenn ich Viv fühle. Anfangs gab es da Leute, die mir sagten: „Wenn du ein guter klassischer Musiker werden willst, mußt du das und das tun“, und ich tat es. Aber irgendwann sagte ich dann: „Scheiße Mann. Es ist mir egal, was ein klassischer Musiker ist. Ich möchte der sein, der ich bin.“
Nigel Kennedy ist also nicht das Produkt eines PR-Konzepts?
Natürlich gibt es ein PR-Konzept, aber das hat sich danach zu richten, wer ich bin. Man kann nicht erst ein PR-Konzept haben und dann danach den Menschen machen.
Du hast auch eine eigene Band...
Die Band heißt „The London Groove Factory“, und wir spielen viel in Clubs, seit drei oder vier Jahren. Das ist Acid Groove Jazz Music, was wir machen. Viele Menschen denken, es braucht eine Melodie und ein bißchen Rhythmus für einen guten Song. Aber eine Menge schöner Stücke, die ich gehört habe, haben vor allem ein gutes Arrangement. Es braucht viel Platz für Improvisationen, für das gegenseitige Zuhören. Und dann muß man hoffen, daß das Publikum auch etwas damit anfangen kann.
Du hast auf Alben von Musikern wie Kate Bush und Peter Gabriel mitgespielt. Wer fragte wen?
Sie haben mich gefragt, aber ich hätte sie auch darum gebeten, wenn ich den Mut dazu gehabt hätte.
Könntest du dir auch vorstellen, in den multikulturellen Projekten von Gabriel oder Sting mitzuarbeiten?
Ich mag die Art, wie Peter Gabriel arbeitet. Aber ich denke eigentlich, daß jede Art von Musik multikulturell ist. Wenn du zum Beispiel Beethoven anhörst: Da sind Melodien aus berühmten Volksstücken mit drin. Und Gruppen wie die Beatles oder Crosby, Stills & Nash oder Led Zeppelin hatten auch Einflüsse aus der indischen Musik oder aus anderen Kulturen. Ich glaube nicht, daß diese multikulturellen Sachen, die ja auch Paul Simon sehr intensiv betreibt, ziemlich neu sind. Sie haben mit „World Music“ einen neuen Namen bekommen, aber ich glaube, World Music hat es immer schon gegeben.
Wie wird die Reaktion des Publikums sein, wenn du, wie geplant, im Dezember bei deinen Konzerten nicht Vivaldi, sondern mit deiner Band eigene Jazz-Kompositionen spielst?
Auf keinem meiner Plakate steht, daß ich Vivaldi spiele: Die Leute setzen das einfach immer voraus. Ich bin nicht auf der Welt, um mein ganzes Leben lang immer nur die Vier Jahreszeiten zu spielen, und hoffe, daß sie auch meine eigene Musik akzeptieren.
Und was ist für die Zukunft geplant?
Ich hätte eine Menge Ideen für eine Platte, die mit Sicherheit ein noch größerer Erfolg würde als Viv und die Vier Jahreszeiten. Aber das hat Zeit. Ich möchte auch gern mal was zusammen mit Chick Corea machen, und wir werden uns deshalb im nächsten Jahr treffen. Und was die unmittelbar nächste Zeit angeht: Ich werde jetzt was trinken.
Aktuelle CDs: Johannes Brahms, Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 77,
Kadenz: Nigel Kennedy,
London Philharmonic Orchestra, Dirigent: Klaus Tennstedt,
EMI Classics 7541872
Antonio Vivaldi: Die Vier Jahreszeiten , Nigel Kennedy, Violine, The English Chamber Orchestra, EMI Classics 7495572
Nigel Kennedy in Deutschland:
22. November: Hamburg,
Kongreßzentrum
23. November: Düsseldorf,
Philipshalle
14. Dezember: München,
Philharmonie
16. Dezember: Mannheim,
Mozartsaal
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