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Stalinistische Prozeßführung

In den sogenannten „Waldheimer Prozessen“ wollte die DDR konsequenten Antifaschismus demonstrieren: es wurden Schauprozesse. Die Öffnung der SED/PDS-Akten ermöglicht neue Einsichten  ■ VON FALCO WERKENTIN

Am 17. Januar 1950 war die Überantwortung von zirka 3.400 Internierten an die DDR-Justiz im 'Neuen Deutschland‘ verkündet worden. Über Monate gab es indes propagandistische Ruhe. Nachdem die Verfahren nahezu abgeschlossen waren, erfuhr die DDR-Öffentlichkeit erstmals am 16.Juni 1950, daß in Waldheim Prozesse gegen „faschistische Verbrecher“ geführt würden. Zu diesem Zeitpunkt waren in den Geheimprozessen von den insgesamt 3.385 Verfahren bereits 2.981 durch Urteile abgeschlossen worden. Das Arrangement für ursprünglich vorgesehene zirka 50 bis 60 Schauprozesse „vor erweiterter Öffentlichkeit“ hatte sich verzögert, die erste öffentliche Verlautbarung zu diesen Prozessen war so datiert worden, daß alsbald die „antifaschistische“ Gerichtspädagogik folgen konnte. Ab 20.Juni begann die öffentliche Inszenierung vor ausgesuchtem Publikum. Vorgeführt wurden KZ-Kommandeure und hohe Nazifunktionäre, Kriegsgerichtsräte und sonstige Verantwortliche für grauenhafte Verbrechen des deutschen Faschismus. So sollte das Bild vermittelt werden, daß in den Waldheimer Prozessen insgesamt hochrangige und unmittelbar in blutige Verbrechen verwickelte Faschisten abgeurteilt worden seien.

Der Blick in die ZK-Akten mit ihren Kurzbiographien der Abgeurteilten vermittelt ein anderes Bild. Überwiegend wurden Menschen ausschließlich aufgrund ihrer Mitgliedschaft in faschistischen Organisationen abgeurteilt, ohne daß der Nachweis individueller Tatbeteiligung an Verbrechen erbracht wurde. Und wenn selbst diese Mitgliedschaft nicht vorhanden oder nachweisbar war, so wurden sie ausschließlich deshalb verurteilt, weil Zufallsdenunziationen sie in Internierungslager verbracht hatten und es dem politischen Kalkül des ZK geboten schien, am Ende der Entnazifizierung in der DDR noch ein kraftvolles symbolisches Zeichen zu setzen. Nur ein administrativer Zufall trennte sie von jenen „früheren aktiven Nazis“, für die Walter Ulbricht bereits 1949 des Lobes voll war, weil sie inzwischen „eine verantwortliche Arbeit leisten. Jedenfalls können sie bestimmte Leistungen aufweisen, was man von einigen Mitgliedern der Christlich-Demokratischen Union und Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands nicht sagen kann, die nach Washington und London schielen.“

In einem internen Abschlußbericht für das ZK vom 5. Juli 1950 wird folgende Bilanz der Waldheimer Prozesse gezogen: „Insgesamt sind 3.385 Verfahren durchgeführt mit folgendem Ergebnis:

bisher insgesamt: 3.392 (100 %)

Vertagung 84 (2,5%)

bis 5 Jahre: 14 (0,4%)

ab 5 bis 10 J.: 371 (11%)

ab 10 bis 15 J.: 916 (27%)

ab 15 bis 25 J.: 1.829 (5 %)

Lebenslänglich: 146 (4,3%)

Tod: 32 (1%)

In diesem Ergebnis sind die von erweiterter Öffentlichkeit im Rathaussaal zu Waldheim durchgeführten Verfahren enthalten.

Seit der Übergabe dieser Kriegsverbrecher und ihrer Helfershelfer aus dem Gewahrsam der sowjetischen Organe in den Gewahrsam der Deutschen Volkspolizei sind in Waldheim 88 verstorben.

Weiter sind wegen infektiösen Erkrankungen 73 Untersuchungshäftlinge noch nicht abgeurteilt, desgleichen zwei wegen geistiger Umnachtung, gemäß ärztlichem Gutachten.“

Anzufügen ist, daß von den insgesamt 32 zum Tode Verurteilten in der Nacht zum 4.November 24 Personen in Waldheim hingerichtet wurden. Zwei zum Tode Verurteilte waren noch vor der Exekution verstorben. In sechs Fällen „wurde der Revision stattgegeben und in einer erneuten Verhandlung wurden lebenslängliche Zuchthausstrafen verhangen“.

Soweit das trockene statistische Ergebnis des vom ZK mit der „politischen Beratung“ der Prozesse beauftragten Genossen Hentschel.

Das ZK hat alles unter Kontrolle

Alle wesentlichen Entscheidungen über den Ablauf der Waldheimer Prozesse wurden direkt vom Zentralsekretariat der SED getroffen, das über die ZK-Abteilung „Staatliche Verwaltung“ auch die direkte Kontrolle über die tägliche Prozeßregie übernahm. Die Richter wurden verpflichtet, nur Urteile auszusprechen, die „nicht in einem zu großen Kontrast zu den von den sowjetischen Tribunalen gefällten Urteilen stehen.“

Am 28. 4. war Paul Hentschel, Mitarbeiter der von Plenikowski geleiteten ZK-Abteilung staatliche Verwaltung, vom Sekretariat des ZKs mit der „politischen Beratung“ der Waldheimer Prozesse beauftragt worden. Ihm zur Seite standen als örtliche Inspizienten des vom ZK- Sekretariat als kollektivem Regisseur inszenierten Großverfahrens Dr. Hildegard Heinze, Hauptabteilungsleiterin im Justizministerium, und die Herren Mellmann und Marquardt von der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei. Aus den Akten erkennbar wird die ständige Rückbindung der Tätigkeit Hentschels zum Parteisekretariat und zu Ulbricht. So meldet Hentschels unmittelbarer Vorgesetzter Plenikowski, über dessen Tisch Hentschels Zwischenberichte gingen, etwa am 22. 5. 1950 in einem Schreiben an Ulbricht noch Beratungsbedarf „zur Frage der Vollstreckung der Todesurteile“.

Hentschels Funktion in diesem Prozeß ging weit über die „grundsätzliche politische Anleitung“ hinaus. Seine örtliche Inspizientengruppe übernahm die operative Anleitung der Verfahren. Denn obgleich die beteiligten Justizfunktionäre von Dr.Heinze handverlesen worden waren, gab es Anlaufschwierigkeiten, bis die im ZK-Sekretariat getroffenen Entscheidungen widerspruchslos von den Richtern nachvollzogen wurden. So vermerken Mellmann und Marquart im „1.Tätigkeits- und Erfahrungsbericht“ der „HV Deutsche Volkspolizei — U- Organ Waldheim“ vom 29.April 1950: „Der Vertreter des Parteivorstandes ist bisher nicht eingetroffen. Seine Anwesenheit wird für dringlich erforderlich gehalten, um in der politischen Linie bei der Justiz bestehende Unklarheiten zu beheben. In einigen Fällen ist Einwirken auf die Angehörigen der Justiz dringlich erforderlich.“

Nicht nur, daß die Richter anfangs das vorgegebene Plansoll von zehn Verurteilungen täglich nicht erfüllten. Sie blieben zunächst auch erheblich hinter den Strafanträgen der Staatsanwälte zurück, so daß im weiteren Verlauf diese frühen „Fehlurteile“ in von den Staatsanwälten beantragten „Revisionsverfahren“, deren rechtliche Qualität der der Erstverfahren in nichts nachstand, aufgehoben werden mußten.

Als weitere Probleme, die Hentschel im Laufe des Verfahrens unter Kontrolle zu bekommen hatte, nennen die Protokolle: „Einzelnen Genossen der Bewachungsmannschaften fehlt es allerdings an der politischen Härte gegenüber den Häftlingen.“ So sei es sogar dazu gekommen, daß Bewacher aus den Reihen der Volkspolizei erklärt hätten, „daß die ganze Durchführung der Aktion in Waldheim doch selbst eine Farce sei und nahezu selbst ein Verbrechen darstellt“.

Hentschel setzte sich durch und löste diese „politische Schwäche“ der Richter mit Anweisungen und neuen Kammerzusammenstellungen. In ihrer Offenheit herausragend ist folgende Feststellung über Anlässe mangelhafter richterlicher Folgsamkeit: „Überwiegend wurde die politische Schwäche der Kammern festgestellt, wenn es sich um Fälle handelte, wo eine Verurteilung aus politischen Gründen erfolgen muß und die für die formal-juristische Urteilsfindung erforderliche ,lückenlose Beweisführung‘ fehlt.“

Nachdem anfangs die Kammern für Urteile von fünf Jahren Zuchthaus noch eine Stunde und mehr verwandten, entwickelte sich unter dem Druck der Anleitung ein so erfolgreicher Wettbewerb, daß es selbst Hentschel zu eifrig wurde: „Eine starke Beachtung wird jetzt der ,Wettbewerbstendenz‘ der Kammern untereinander geschenkt. Die Gefahr, von einem Extrem ins andere zu fallen, führt dazu, daß einige Kammern die Anzahl der Jahre der verhängten Freiheitsstrafen als Gradmesser ihrer ,politisch richtigen Linie‘ betrachteten. Ferner führt ein gefährlicher Schematismus unter dem Mantel ,glatter Fall‘ dazu, daß zehn Verhandlungen in sechs Stunden durchgepeitscht werden.“ Nachdem noch im Mai 1950 zirka 40 bis 60 „geeignete Verfahren“ für öffentliche Verhandlungen vorgesehen waren, wurden zwischen dem 20. und dem 29.Juni die Waldheimer Prozesse mit nur noch exakt zehn Verfahren vor „erweiterter Öffentlichkeit“ abgeschlossen. Für diesen öffentlichen Teil waren jene Internierten ausgesucht worden, bei denen offenbar hinreichend stichhaltige Beweise für ihre Beteiligung an schwersten nationalsozialistischen Verbrechen vorlagen.

Generalprobe und Claqueure

Beim FDGB des Landes Sachsen bestellte man Claqueure und setzte für den 19. 6. 1950 eine „Generalprobe“ an — so der Begriff in den Akten. Damit jene, die als Angeklagte für die Statistenrolle auserwählt worden waren, ihre Rolle auch regiegemäß erfüllen konnten, galt die Anweisung: „Die Leitung der Anstalt ist angewiesen, die Häftlinge in ordentlicher Zivilkleidung, rasiert und auch sonst sauber dem U-Organ zu übergeben. Außerdem werden die zur Verhandlung stehenden Häftlinge in ihren Zellen durch einen besonderen Wachposten laufend beobachtet, um Selbstmordversuche auszuschalten...“

Probleme hatte die SED während der Prozesse aber nicht nur mit Richtern und Schöffen. Regiewidrig machte der Staatssekretär im DDR- Justizministerium Dr. Brandt, mehrfach den Versuch, als Beobachter an Verhandlungen teilzunehmen. Nachdem er am 22. 5. 1950 in Waldheim abgewiesen worden war, drohte Brandt dem verantwortlichen Leiter der Volkspolizei, das Verfahren zur Kabinettsangelegenheit zu machen. Dies sorgte für Aufregung. Plenikowski schickte daraufhin Ulbricht einen Rapport, in dem er berichtete, daß Dr.Brandt gar mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Otto Nuschke (CDU) anzureisen drohe und man nun die Bühne entsprechend vorbereiten würde. Nachdem es Brandt ohne Nuschke schließlich am 31. 5. 1950 gelang, einige Prozesse zu beobachten, versuchte er, seinen Parteifreund Nuschke zur Intervention zu bewegen — zu Brandts Unglück mit halbem Erfolg. Er zahlte dafür mit insgesamt 14 Jahren Zuchthaus.

Seit März 1952 ließ das ZK unter dem Code-Namen „Strafverfahren Gera“ weitere Prozesse gegen 39 Waldheim-Häftlinge vorbereiten, die 1950 wegen der Verhandlungsunfähigkeit dieser Internierten nicht abgeschlossen werden konnten. Zwar ist in einem Bericht an die SKK (Sowjetische Kontrollkommission, d. Red.) zu Händen des Genossen Oberst Titow, angemerkt, daß auch zu diesem Zeitpunkt 28 der 39 Häftlinge nicht verhandlungsfähig seien. Gleichwohl wurden im Juni 1952 36 Verfahren vor einer Strafkammer in Dresden abgeschlossen, erneut in Geheimprozessen von gleicher Qualität wie die in Waldheim.

Als Richter und Schöffen wurde aus den Verfahren des Jahres 1950 bewährtes Personal ausgesucht. Damit „auch gegenüber den Angeklagten die Öffentlichkeit der Verhandlung gewahrt“ sei, erhielten dienstfreie Volkspolizisten die Anweisung, in ziviler Kleidung Öffentlichkeit zu spielen. Detailliert legt das ZK der SKK die Regiepläne zu Genehmigung vor.

In einer Aktennotiz über eine Besprechung mit Walter Ulbricht vom 23. 5. 1952 heißt es: „Die Einsicht in die Akten zeigt, daß bei 38 Internierten die Verübung irgendwelcher konkreter Verbrechen durch die Voruntersuchung nicht bewiesen ist.“ Dieses Abschlußverfahren endete mit einem Freispruch mangels Beweisen, zwei Internierte wurden als „unschuldig“ freigesprochen, vier Internierte waren inzwischen verstorben. Die übrigen Internierten wurden verurteilt.

Abschluß der Verfahren und Korrektur

Um so überraschender ist es, daß kaum einen Monat später die SKK, mit der — wie die Akten zeigen — jeder Schritt und alle geplanten Urteile dieses letzten Verfahrens abgesprochen wurden, eine Kehrtwendung einleitet.

Was immer die Gründe waren: als Anlage zu einer Hausmitteilung Ulbrichts an Plenikowski vom 27. 7. 1952 ist ein Merkblatt der SKK zu finden, in dem es heißt: „Es erscheint zweckmäßig und in politischer Hinsicht vorteilhaft, die Akten bezüglich der in Waldheim verurteilten Kriegs- und Naziverbrecher zu überprüfen zwecks Befreiung von der Haft oder Verminderung der Strafen für einzelne Kategorien der Verurteilten. Die Durchführung ist zum 3. Jahrestag der Bildung der DDR anzuberaumen... Die Vorschläge der Kommission müssen im Politbüro des ZK der SED beraten werden und durch einen Gnadenakt des Präsidenten der DDR verwirklicht werden.

Das Politbüro beschloß daraufhin am 5. 8. 1952, die Urteile durchsehen zu lassen und erteilte den Auftrag, eine „Kommission zur Überprüfung der in Waldheim verurteilten Nazi- und Kriegsverbrecher“ einzuberufen. Gleichzeitig untersuchte eine weitere „Kommission zur Überprüfung von Gefangenen, die durch die Gerichte in der DDR bestraft wurden und entlassen werden sollen“ die Haftstrafen sonstiger Häftlinge. Im Ergebnis wurden bereits 1952 mehr als 1.600 der Verurteilten freigelassen, weitere Massenentlassungen erfolgen zwischen 1954 bis 1956. Das ZK setzte sich auch über die immanent sehr einsichtigen Bedenken der Justizministerin Hilde Benjamin hinweg, die in einem Schreiben an Otto Grotewohl vom 15. 4. 1955 ihre Probleme mit weiteren Entlassungen zum Ausdruck gebracht hatte: „Ich habe Bedenken, ob in der gegenwärtigen Situation die Entlassung dieser Verurteilten in diesem Umfange weitergeführt werden soll oder ob wir uns auf Einzelfälle, in denen eine Entlassung offensichtlich geboten ist, beschränken sollten. Die jetzige Liste enthält zwar überwiegend solche Personen, die wegen Kriegsverbrechen, das heißt Verbrechen gegen die Menschlichkeit, verurteilt wurden und zwar hauptsächlich auch solche, denen keine unmittelbare persönliche Schuld, sondern eine sogenannte Kollektivschuld zu Last fällt... Trotzdem sind diese Menschen als Personen einzuschätzen, die überwiegend keine positive Einstellung zur DDR haben werden — trotz aller günstigen Begutachtung der Haftanstalt.“

Soweit sie nicht in der Haft verstarben, kamen die letzten Waldheim-Häftlinge in den sechziger Jahren frei. An der Legende von den Waldheimer Prozessen als Beispiel des konsequenten Antifaschismus der DDR, der zugleich mit Augenmaß zu differenzieren wußte zwischen den großen Verantwortlichen und den kleinen Verbrechern, wurde hingegen festgehalten.

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