Monster im Reifrock

Die gute alte Scarlett. Eine Verteidigung in bester Absicht  ■ Von Elke Schmitter

Wenn man eine fremde Sprache lernen will, empfiehlt sich ein Einstieg, der zu Herzen geht. Einer meiner letzten Versuche, im Französischen endlich einen Begriff davon zu bekommen, welche Vergangenheitsform Flaubert für die Bovary nun erfunden hat, begann mit dem Fotoroman: Eine schöne Einrichtung, die umstandslos in die lebendige Mitte der Sprache führt und zugleich, dank bildhaftem plot, direkte Erfolgskontrolle ermöglicht.

Der Lernerfolg war allerdings ein anderer. Die Sprache der Liebe ist nämlich keineswegs einfach. Selbst die simpelste Geschichte, selbstredend eilend zum Happy-End, für das ja nicht mehr als 35 Seiten Raum und Zeit ist, zeichnet sich vor allem aus durch den wuchernden, ja hemmungslosen Umgang mit dem Konditional. Es wimmelt nur so von „würde, hätte, könnte“ und „wäre es gewesen“: „Wenn er mir in die Augen gesehen hätte“, so sinniert die eine, „dann hätte er doch merken müssen, wie es um mein Herz bestellt ist.“ Und: „Würde sie mir nur glauben,“ seufzt das entfernte Gegenüber, „daß ich sie hätte lieben können, wäre sie nur ehrlich gewesen.“ Während die Nebenbuhlerin zürnt, über dieses Mädchen, das ihm niemals näher gekommen wäre, wenn sie selbst nur früh genug begriffen hätte, daß sie sich hätte erklären müssen.

Die Wege der Liebe sind lang und gewunden, und sie führen vornehmlich durchs Mögliche. Die Sprache ist überreich an Ressourcen des Konditional, und der Fotoroman ist ihre kompakte Vervollkommnung, ein Brühwürfel des Liebeswunschens.

Der Liebesroman an sich verläuft ja bekanntlich glücklich, darin unterschieden von der Literatur: die betreibt Enttäuschungsarbeit. Wer sich im 20. Jahrhundert noch ein Happy- End zuschulden kommen läßt, der hat die Hoffnung — nicht auf die Bestsellerlisten, aber auf das Lob der Kritik — endgültig abgeschrieben; Ausnahmen sind nicht der Rede wert. Wie aber steht's mit dem Klassiker Vom Winde verweht? Wie mit Scarlett? Ist sie nun eine literarische Figur oder ganz und gar abzuschreiben, hinunter in den Abgrund des Kitsches?

Scarlett hat einen furchtbaren Charakter. Sie ist eigensüchtig und unverschämt, sie hat den Egoismus eines Kindes und den Charme einer berechnenden Kokotte, sie ist nur am Geld interessiert, an oberflächlicher Anerkennung und bewundernden Blicken. Sie schert sich nicht ums Allgemeinwohl und ist nicht einmal vom Leben so gebeutelt, daß sie den Zynismus der Enttäuschten für sich beanspruchen könnte. Sie hat nur eine weiche Stelle, und auch die färbt sich langsam schwarz: ganz und gar unempfindlich für das Leiden anderer, hat sie am Kindbett der allerbesten Melanie nichts als die düstersten Wünsche und beschwört ihr den Tod an den Hals: Sie ist eine schlechte Heldin.

Scarlett vereint zwei Unmöglichkeiten des erfolgreichen Trivialromans: Sie wird nicht glücklich, und sie ist es selber schuld. Ihr schlechter Charakter zeigt sich von Anfang an, und er bessert sich überhaupt nicht. Hingegen wird ihr eine Einsicht beschert: Sie hat sich über sich selbst getäuscht und über Ashley und Rhett dazu. Dabei ist völlig unerheblich, wer Rhett und Ashley sind: Sie hat sich ein falsches Bild gemacht. Sie hat den einen geliebt, den sie niemals verstanden hat und den sie, als sie ihn endlich versteht, achtlos und müde von sich wirft. Statt dessen eilt sie zu Rhett, dessen Liebe sie schließlich begreift und den sie endlich versteht als ihr ähnlich und ebenbürtig: der einzige, der sie durchschaut und der sie trotzdem liebt. Aber nun will Rhett nicht mehr, ist des vergeblichen Liebens müde geworden. So viele Wege im Kreis, und nun ist die Mitte dahin. So viele Gedanken im Konjunktiv, und nun ist der ferne Gegenstand fort. So viele Gefühle umsonst empfunden, und immer noch wachsen sie nach.

Ihr ganzes Leben fühlt Scarlett im Konditional: Wäre Ashley frei, und hätte er Melanie nicht geheiratet, und wäre er nicht so edel, und würde er wissen, wie sie für ihn empfindet — dann könnte sich alles zum Glück hin wenden. Und als Ashley schließlich frei ist und Melanie endlich tot und sein Edelmut überflüssig, und als er sogar weiß, wie sie für ihn empfindet — als all diese Möglichkeitsformen endlich zum Indikativ geworden sind, da haben sie auch ihren Sinn verloren. Statt dessen wandern sie zum nächsten Objekt der Hoffnung: Wenn Rhett nur einsehen würde, daß sie sich all die Jahre getäuscht hat, und wenn er begreifen würde, daß sie nun verstanden hat, was sie eigentlich fühlte, dann müßte er doch die starken Arme um sie schließen und alles, alles würde gut. Aber da ist es schon zu spät.

Scarlett ist als Romanfigur ein Wunder. Sie ist das erste weibliche Charaktermonster der Literaturgeschichte, das alle in ihre empfindsamen Herzen schließen — von den Dreizehnjährigen, die heimlich mit der Taschenlampe im Bett ihr Schicksal verfolgen, sich in einen Reifrock wünschen, die Taillenzentimeter prüfen (und parallel Onkel Toms Hütte konsumieren, ohne eine Beziehung, geschweige denn einen Widerspruch zu bemerken zwischen der guten alten Mammy und Harriet Beecher-Stowe), bis zu den Dreiundsiebzigjährigen, die, empfindsam wie weiland Tante Polly, sich von dem unverschämten Butler charmieren lassen und ihm und Scarlett, trotz ihrer Fehler, den Himmel auf Erden wünschen. Und dazwischen alle anderen; Scarlett läßt keine aus. Trotz des nicht zu unterschätzenden Angebots an wahrlich guten Menschen in ihrer direkten Umgebung, trotz all der Mammys und Ellens und Melanies, die weise und schön und damenhaft sind, trotz Scarletts offensichtlicher Unverschämtheit, die jegliche christliche Entrüstung rechtfertigen würde — — wir sind auf ihrer Seite.

Sie ist nicht einmal Mutter; das heißt, sie ist es nur fleischlich. Sie hat drei Kinder von drei verschiedenen Männern, und die ersten beiden bedeuten ihr gar nichts. Bonnie Blue Butler, ihr vorläufig letztes Kind, Rhetts Töchterchen, liebt sie nur als verlängertes Körperteil, als Auswuchs ihres grenzenlosen Narzißmus, als Gegenstand der konkurrierenden Koketterie. Sie will kein weiteres mehr, denn das würde ihre Taille ruinieren. Ihr Herz ist eine Mördergrube, alle schauen hinein, allen wird dabei schwindlig, doch keine tritt auch nur einen Schritt zurück. Scarlett O'Hara ist ein Skandal, sie ist eine Schande für ihr Geschlechts und für die Literatur. Wir wünschen ihr deshalb alles Gute.

Das Wünschen hat leider geholfen. Es hat sich eine Dame gefunden, die, auch aus den Südstaaten kommend, um dem Leiden ein Ende zu machen, zum Laptop gegriffen hat. Und hätte es besser gelassen; und verdiente kein einziges Wort. Aber nun ist es in der Welt, dieses Schandstück namens Scarlett, und wir müssen immerhin warnen.

Das Buch, die verwünschte Fortsetzung, ist so grottenschlecht, daß es nicht genügt, einfach die Augen zuzumachen und sich bis zum Ende vorzutasten: dazwischen greift man in Schleim, stolpert durch Abgründe des Geschmacks, watet durch Tränenpfützen, und von den Wänden tropft der ausgepreßte Rest.

Alexandra Ripley hat sich an allem vergangen, woran man sich nur vergehen konnte: an der patriarchalen Sympathie für die Schwarzen (die auf einmal bunte Namen tragen, bis sie recht plötzlich verschwinden), an Scarletts gußeisern schlechtem Charakter (der immer besser wird, bis er ebenfalls verschwindet), an Rhetts verwegenem Charme (der nicht mehr als geschätzte 30 Seiten der insgesamt fast 800 zur ermatteten Verfügung hat), an der Szenerie der Südstaaten (die verlassen wird zugunsten Irlands — the green, green grass of home and revolution), am gesamten Personal von Tara und Atlanta (das nach 100 Seiten wg. Ortswechsel ersatzlos gestrichen wird), an Margaret Mitchells Sprache (les faux pas sont legion) und an den primitivsten Gegebenheiten (Mammy und Ellen bringt sie durcheinander).

Es ist ihr gelungen, zu einem tatsächlich epischen Buch einen Wurmfortsatz zu schreiben, der so überflüssig ist wie ein Blindarm, nur leider nicht so kurz. In Mitchells Text richtet sich die Dramaturgie nicht nach den äußeren, sondern den inneren Ereignissen: Eine Szene wie die in Taras Garten, in der Scarlett mit Ashley spricht, damit er ihr endlich seine Liebe gesteht — und in der statt dessen von alten Zeiten die Rede ist, also eigentlich nichts passiert (in Scarletts Sinne und in dem ihrer atemlos mitfühlenden LeserInnen), wird von Mitchell seitenlang vorbereitet und schließlich nach-erzählt. Bei Ripley geht es im Serien-Tempo voran: Rhett taucht zum Sterben Mammys auf und verschwindet wieder wie der Geist eines Ritters, sagt vier gestanzte Sätze zwischendurch, und von der Auseinandersetzung zwischen Scarlett und ihm bleibt nichts übrig als ihr „Ich will“ und sein „Ich will nicht“: Sogar den Konditional bringt Ripley zur Strecke.

Wenn es denn eines Beweises bedurft hätte, daß Literatur mehr ist als eine Anstrengung: Frau Ripley hat ihn geliefert. Das kollektive Unbewußte, das positiv so schwer zu beweisen ist, hier zeigt es sich im Negativ. Es ist nun einmal nicht möglich, sich in die abgelebten Zeiten zu finden, die Mitchell seelenvoll beschreibt; Frau Ripley nimmt ihre Vorgängerin für das, was sie als alten Plunder mißversteht, nachgerade solidarisch in Schutz. Sie läßt Scarlett (Scarlett! Diese Inkarnation der Selbstvergessenheit, die zu keinerlei Selbstkritik in der Lage ist, die jede Erinnerung meidet, die um sich selbst den größten Bogen macht —) zurückdenken an jene Zeit, „als ihr größtes Problem noch darin bestanden hatte, welches ihrer vielen Ballkleider mit den ausladenden Röcken sie anziehen sollte“.

Mag sein, daß es Frau Ripleys Problem heute ist, welches ihrer Konten sie mit welchen Tantiemen füllen soll oder ob ihr Dekolleté mit Silikon. In keinem Fall kann sie Scarletts Gedanken nachvollziehen und ebensowenig die von Margaret Mitchell, von denen sie sich distanziert, wie man das im Zeitalter der Befreiung zur Sexualität, zur Demokratie und zur plastischen Chirurgie eben so macht.

Hermann Gremliza von 'Konkret‘ hat die verdienstvolle Einrichtung eines Karl-Kraus-Preises für Leute begründet, die das Schreiben lassen sollten. Wenn alle Scarlett-FreundInnen dieser trostlosen Erde der Scarlett-Verderberin nur einen einzigen Pfennig spenden, dann sollte die Abfindung genügen, um dieses Werk der grünen Tonne zu übergeben und die Dame auszuzahlen. Ich beginne mit einer Mark.

Margaret Mitchell: Vom Winde verweht. Aus dem Amerikanischen von Martin Beheim-Schwarzbach und Frau Dr. Harnack. Rowohlt Taschenbuch, 906 S., DM 14,80

Alexandra Ripley: Scarlett. Aus dem Amerikanischen von Karin Kersten, Till Lohmeyer und Christel Rost. Verlag Hoffmann und Campe, 784 S., geb., DM 48,- .