Bulgarien vor einer verwirrenden Wahl

Die oppositionelle „Union demokratischer Kräfte“ tritt dreigespalten an/ Die Wendesozialisten sind durch ihre unklare Haltung während des Putsches in Moskau kompromittiert/ Eine eindeutige Wahlentscheidung ist nicht zu erwarten/ Bald Neuwahlen?  ■ Aus Sofia Ralf Petrov

Zum zweiten Mal in der Nachkriegsgeschichte Bulgariens soll am Sonntag frei und demokratisch gewählt werden. Die Vorbereitung dieser Wahlen war mühsam und langwierig. Das Kräfteverhältnis im Parlament, in dem die Wendesozialisten über die absolute Mehrheit verfügen, entspricht schon lange nicht mehr dem in der Gesellschaft. Doch die im Vorjahr gewählten Abgeordneten taten alles ihnen mögliche, um ihr Mandat maximal zu verlängern. Schließlich griff, nachdem der Wahltermin mehrfach verschoben worden war, Staatspräsident Schelev ein, der in der Rolle eines verärgerten Vates die Volksvertreter mahnte, ihren Pflichten nachzukommen.

Die politische Landschaft Bulgariens ist mittlerweile mehr als verwirrend geworden. In dem Urwald von Parteien, Bewegungen, Organisationen, Koalitionen und Konföderationen finden sich selbst Experten nur mit Mühe zurecht. Kein Wunder — in dem neun Millionen Einwohner zählenden Bulgarien haben sich über 80 politische Formationen für Abgeordnetenplätze gemeldet. Die etwa sechs Millionen Wahlberechtigten müssen zwischen über 40 Wahlzetteln unterscheiden.

Nach 45 Jahren totalitärem Kommunismus hatten die Wähler nach der Wende im Vorjahr im wesentlichen nur die Entscheidung zu treffen, für oder gegen die Kommunisten zu stimmen. Den Wahlsieg trugen die Ex-Kommunisten davon, die sich inzwischen in Sozialisten umbenannt hatten. Für ihren Wahlerfolg war die „Provinz“ entscheidend. Die alte Nomenklatura kontrollierte damals noch unangefochten die Bürgermeisterämter und die Leitungen der LPG's.

In den Städten siegte die Opposition, eine Koalition zahlreicher antitotalitärer Organisationen unter dem Sammelbegeriff „Union demokratischer Kräfte“ (UDK). Unter dem Druck einer selbst für osteuropäische Verhältnisse beispielslosen ökonomischen Talfahrt willigte die Opposition Anfang dieses Jahres ein, in die Regierung einzutreten. Ein ehemaliger Dissident, der Philosoph Schelev, wurde zum Präsidenten gewählt. Der erbitterte Streit über „Versöhnung“ oder „Abrechnung“ mit dem kommunistischen System, über Ausmaß und Tempo der ökonomischen Reform und über die Prinzipien einer neuen Verfassung tobte allerdings weiter.

Inzwischen hat der Gegensatz „Kommunisten—Antikommunisten“ seine polarisierende Kraft verloren. Es zeigte sich, daß die beiden Kabinette des Wendesozialisten Lukjanov unwillig und unfähig waren, Reformen durchzuführen. Während des Putschversuches in Moskau blieben als einzige die Sozialisten auf Distanz und ihr Vorsitzender behauptete, er könnte die Situation mangels Information nicht einschätzen. Stimmen wurden laut, daß in Sofia ein Putsch nach Moskauer Vorbild geplant sei. Einige Wochen nach der Niederlage der Putschisten veröffentlichte die Präsidentschaftskanzlei Dokumente über die internen Kontakte der bulgarischen Sozialisten zur KPdSU während der Moskauer „Ereignisse“. Dieser Umstand versetzte dem ohnehin bröckelnden Image der BSP einen weiteren Schlag und stimmte selbst linientreue Parteigenossen nachdenklich.

Obwohl sich alle oppositionellen Parteien während des Moskauer Putsches eindeutig hinter Gorbatschow stellten, blieb dies im Wesentlichen der einzige gemeinsame Anhaltspunkt. Seit Monaten wird die Union der Demokratischen Kräfte von internen Kontroversen und Streitigkeiten erschüttert, die bis zur Spaltung führten. Nach der Auflösung der UDK entstanden drei Flügel, die sich weiterhin Union der Demokratischen Kräfte nennen. Unter den Sympathisanten der UDK haben die Fraktionskämpfe zur Enttäuschung und Resignation geführt — war doch die blaue Farbe der Opposition zum Symbol für eine bessere Zukunft Bulgariens geworden. Präsident Schelev hat die Malaise der UDK so zusammengefaßt: Während alle Faktoren für den Erfolg der Opposition arbeiten, arbeitet diese gegen sich selbst.

Die Frage „Who is who?“ in der gespaltenen Union können ihre Mitglieder selbst nicht so richtig beantworten. Fakt ist, daß sich in den letzten Wochen nicht nur die Koalition an sich, sondern auch die sie zusammenstellenden Parteien spalteten. Als die radikalste und kompromißloseste Formation gilt die „UDK-Bewegung“, bestehend aus kleineren Oppositionsparteien mit wenig Mitgliedern. Sie bekämpfen die „weiche“, auf Konsens und friedlichen Übergang zur Marktwirtschaft basierende Linie und fordern, daß die für den gegenwärtigen, miserablen Zustand des Landes Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Für Furore sorgten die Politiker der UDK-Bewegung mit der Rückkehr eines Exil-Bulgaren, der vor dem Krieg Angehöriger der faschistischen Legion gewesen war und als großer Verehrer Hitlers galt. Der inzwischen in der Presse als „der bulgarische Führer“ bezeichnete Politiker steht auf der Liste der UDK-Bewegung. Die anderen zwei Nachfolger der großen oppositionellen Koalition, sind das „UDK-Zentrum“ mit den Sozialdemokraten als führender Kraft und die UDK-Liberalen. Die Sozialdemokraten sind für eine stärkere Rolle des Staates bei den künftigen Reformen, während die Liberalen eine vollständige Trennung von Wirtschaft und Politik fordern. Beide Formationen, deren gemeinsamer Nenner in der Ablehnung des Chauvinismus und ihrer „westlichen“ Orientierung besteht, haben bereits ein Dokument über eine intensive Zusammenarbeit nach den Wahlen unterzeichnet.

Programme und Losungen der großen Parteien sind nahezu identisch: freie Marktwirtschaft, Reformen, ein besserer Lebensstandard. Um sie herum lagern eine Vielzahl anderer Parteien mit ähnlichen Programmen. Gute Chancen haben die kürzlich wiedervereinigte „Bulgarische Bauernpartei“ und die monarchistische „Konföderation Königreich Bulgarien“, die für die Rückkehr des bulgarischen Exil-Königs wirbt. Der erfreut sich nach einem gelungenen Fernsehauftritt beträchtlicher Sympathien. Auch der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“, die die Interessen der bulgarischen Muslime vertritt und nach langwierigen Debatten kandidieren darf, ist die parlamentarische Vertretung sicher. Meinungsumfragen zufolge wird es keine der antretenden Parterien schaffen, über 30 Prozent der Abgeordnetenplätze zu erhalten.

Dies würde zu einer Patt-Situation im Parlament führen, nach der neue Wahlen nicht ausgeschlossen sind. Im Vergleich zu den ersten Wahlen ist das Interesse merklich abgeflaut. Jüngste Meinungsumfragen rechnen mit einer großen Zahl Wahl-Unlustiger — mindestens 10 Prozent. Vor dem Hintergrund der wieder anwachsenden Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften und den Warnungen vor einem kalten Winter kein Wunder.