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Palästinenser zwischen Exil und Besatzung

Nach länglichem Polit-Bazar beginnt morgen in Madrid die Friedenskonferenz über den Nahen Osten. Dabei ist auch eine palästinensische Delegation. PLO-Chef Arafat und seine Mannen haben bereits im Vorfeld Flexibilität gezeigt. Sicher nicht ganz freiwillig, denn wesentlich diktierte Israel die Bedingungen. Außerdem mußte Arafat erhebliche interne Konflikte überbrücken und nicht zuletzt die vielbeschworene „nationale Einheit“ von Exilanten und Palästinensern in den besetzten Gebieten schmieden. Eine etrachtung des Prozesses der palästinensisch-palästinensischen Annäherung.  ■ VON GEORG BALTISSEN

Die im Dezember 1987 begonnene Intifada in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten hatte das Schwergewicht des palästinensischen Befreiungskampfes vom Exil wieder in die besetzte Heimat verlagert und in die direkte Konfrontation mit der israelischen Besatzungsmacht. Doch nach den Jahren politischer Erfolglosigkeit scheint die Intifada nun auf den Weg der Selbstzerstörung abzudriften. Die PLO hatte unterdessen mit der Staatsproklamation im November 1988 die politische Regie übernommen und auf Drängen der Palästinenser aus den besetzten Gebieten ein realistisches Friedenskonzept vorgelegt, um die Früchte der Intifada zu ernten. Doch die tatsächliche oder vermeintliche Parteinahme Arafats für den Irak im Golfkrieg stürzte die Organisation ins politische Abseits und gab wiederum den Weg frei für eine palästinensische Delegation aus den besetzten Gebieten.

Gegenwärtig scheinen die bisherigen palästinensischen Unterhändler Feisal Husseini und Frau Hanan Ashrawi auf der palästinensischen Bühne eine Bedeutung erlangt zu haben, die nur noch von der Yassir Arafats selbst übertroffen wird. Beide werden in Madrid als führende Mitglieder eines „Beratungsteams“ anwesend sein und nach Husseinis eigenen Worten eine „gewichtige Rolle“ in den Verhandlungen spielen, auch wenn sie als Ostjerusalemer nach Israels Willen bestenfalls am Katzentisch Platz nehmen dürfen. Doch Arafat und die PLO werden im wesentlichen durch und über Husseini und Ashrawi mit der palästinensischen Verhandlungsdelegation in Madrid sprechen.

„Wir treten in eine neue Phase“, hatte Husseini vor palästinensischen AktivistInnen in Jerusalem verkündet, „wir sehen nun politischen Diskussionen entgegen, einer neuen Realität.“ Einige freilich mochten diese neue Realität noch nicht so ganz wahrhaben. Die Volksfront (PFLP) und die Demokratische Front (DFLP) riefen gemeinsam mit der islamistischen Organisation „Hamas“ zu Streik und Demonstrationen gegen die Madrider Konferenz auf. In Bethlehem, wo der Streik befolgt wurde, meinte Elias Freidsch, Bethlehems langjähriger Bürgermeister und Mitglied der Delegation für Madrid, daß die Leute aus Angst gestreikt hätten, die Mehrheit aber eine Konferenzteilnahme befürworte. Zeitungsumfragen in Ostjerusalem geben ihm Recht. Danach sprechen sich 60 Prozent der PalästinenserInnen in den besetzten Gebieten für eine Teilnahme in der spanischen Hauptstadt aus.

Auch wenn Husseini und Ashrawi in den Verhandlungsrunden der vergangenen acht Monate mit US-Außenminister Baker stets die PLO- Führung in Tunis konsultierten und deren Zustimmung einholten, wurde die Entscheidung der PLO doch von Warnungen aus den besetzten Gebieten dominiert, die möglicherweise letzte Chance, der israelischen Landnahme und Siedlungspolitik oder gar einer Vertreibung nach Jordanien entgegenzutreten, nicht zu verpassen. Andererseits bedurfte Arafat der Autorität der Führer aus den besetzten Gebieten, um den Delegierten auf der 20. Sitzungsperiode des Palästinensischen Nationalrats Ende September in Algier jene Konzessionen abzuringen, die allein ein gleichwohl bescheidenes politisches Überleben der PLO und ihres Chefs auf der internationalen Bühne garantieren konnten. Es war nicht zuletzt der Auftritt von Husseini und Ashrawi im Club des Pins in Algier, der den Delegierten des Nationalrates unmißverständlich klar machte, daß sie in den sauren Apfel weiterer Konzessionen würden beißen müssen: namentlich die Abkehr von einer internationalen Friedenskonferenz unter der UNO und der Verzicht auf die Forderung nach einer vollständigen Räumung der 1967 von Israel besetzten Gebiete, der sofortigen Einstellung der Siedlungspolitik und einer verbindlichen Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung.

Doch die schlichte Ignorierung des veränderten internationalen Kräfteverhältnisses im Nahen Osten durch eine Mehrheit im Nationalrat wäre einer palästinensischen Selbstmordaktion gleichgekommen. Die PLO wäre zu einem handlungsunfähigen Bürokratenapparat degeneriert. Die Delegierten, die sich in Algier mit der eindeutigen Mehrheit von 313 Ja- und 18 Nein-Stimmen bei fünf Enthaltungen für eine Teilnahme an der US-gesponserten Friedenskonferenz entschieden, wollten einer solchen Entwicklung begegnen, wenngleich wohl manche nur ihrer eigenen Resignation erlagen. — Ironie nahöstlicher Politkoalition: Während der syrische Staatschef Assad den USA eine Teilnahme an der Friedenskonferenz bereits zugesichert hatte, durften oder mußten die unter seinen Fittichen agierenden palästinensischen Gruppen in Damaskus — „Volksfront-Generalkommando“, „Fatah-Rebellen“ unter Abu Mussa, die „Palästinensische Rettungsfront“ — gegen die Friedenskonferenz vom Leder ziehen. Kaum jemand zweifelt daran, daß auch die „zurechtgestutzte“ Palästinenserdelegation an der langen oder bei Bedarf kurzen Leine der PLO gehalten wird.

Angesichts der israelischen Bedingungen und der betonharten Siedlerdelegation, die Schamir nach Madrid führen will, ist die demonstrative Einheit zwischen „innen“ und „außen“ ein besonderes palästinenisches Anliegen. Dafür darf vor laufenden Kameras in Jerusalem auch schon einmal ein Fax hergezeigt werden, auf dem die Unterschrift Arafats prangt. Die Interessensidentität zwischen der PLO-Führung im Exil und den PalästinenserInnen unter Besatzung war jedoch nicht immer so ostentativ.

Mit der Frage allerdings, wer die Kontrolle über wen ausübt, ist die Frage nach der Beziehung zwischen der PLO-Führung im Exil und den BewohnerInnen der besetzten Gebiete in ihrer Komplexität nicht zu erfassen. Die PLO ist in den besetzten Gebieten verboten. Dennoch unterhalten alle PLO-Fraktionen — Fatah, PFLP, DFLP und die Kommunistische Partei (KP) — Untergrundgruppen. Eine Reihe von Volksorganisationen, sozialen und öffentlichen Einrichtungen und Institutionen ist direkt mit den PLO-Parteien liiert.

Die Intifada-Führung in den besetzten Gebieten setzt sich aus Vertretern aller palästinensischen Parteien zusammen — ausgenommen Hamas, die nicht der PLO angehört. Die Untergrundführung entscheidet im Konsens über die konkrete Taktik der Aktionen und Ziele vor Ort, wohingegen der PLO-Führung im Exil die gesamtpolitische Vertretung obliegt. Die Mehrheit der Palästinenser — welcher Partei sie auch immer zuneigen — sieht in der PLO ihre einzig legitime Vertretung, ohne deshalb jedoch jeden Winkelzug der PLO- Führung gutzuheißen oder jede PLO-Erklärung zu unterschreiben.

Nach dem Scheitern des bewaffneten Kampfes in der Westbank 1967 und im Gazastreifen 1971 und nach der militärischen Niederlage der PLO im jordanischen Bürgerkrieg 1970/71 begann im „Innern“ der Aufbau politischer Strukturen des Widerstandes. Zeitgleich feilte die PLO im Exil an einer politischen Strategie, die im Zehn-Punkte-Programm von 1974 mündete. Während die PLO in den späten sechziger Jahren die besetzten Gebiete vornehmlich als Reservoir zur Rekrutierung von Feddayin betrachtet hatte, wurde der bewaffnete Kampf, dessen identitätsstiftende Funktion (Schlacht von Karameh 1968) nicht bestritten wurde, unter den BewohnerInnen der besetzten Gebiete zunehmend obsolet. Der Guerillakrieg, der kaum jemals über eine Nadelstichtaktik hinauskam, wurde von der PLO gleichwohl hochgehalten. Die wesentlichen militärischen Konfrontationen fanden bis 1978 und nach 1982 jedoch zwischen der PLO und den arabischen Staaten statt.

Im August 1973 konstituierte sich in den besetzten Gebieten die Palästinensische Nationale Front (PNF) als „integraler Bestandteil der palästinensischen Nationalbewegung“. Nicht zuletzt ihrem Einfluß wird die Verabschiedung des Zehn-Punkte- Programms zugeschrieben, das erstmals eine Staatlichkeit neben und nicht anstelle Israels vorsah und dem politischen Kampf gleiche Bedeutung wie dem mililtärischen einräumte. Der sozialpolitisch linke Anspruch der PNF und ihre Weigerung, nach dem Camp-David-Abkommen 1978 traditonelle Führer, wie die Bürgermeister von Bethlehem und Gaza, in ihr Führungsgremium aufzunehmen, setzte die PNF in Widerspruch zur PLO, die im nationalen Kampf alle gesellschaftlichen Schichten eingeschlossen wissen wollte. Nicht zuletzt wegen dieses Widerspruchs hatte die PLO schon bei der Kommunalwahl von 1976 bis zum allerletzten Moment gezögert, ehe sie der „nationalen Liste“, die einen überwältigenden Wahlerfolg errang, ihre politische Unterstützung zusagte. Die PNF wurde im September 1978 vom damaligen Verteidigungsminister Sharon verboten.

Auf dem Weg zur palästinensischen Staatsproklamation am 15. November 1988 gingen immer wieder entscheidende Impulse zu realitätsorientierten programmatischen Veränderungen des politischen Kurses der PLO von den besetzten Gebieten aus, mit der Intifada als vorläufigem Höhepunkt. Impulse, die der PLO-Führung zugleich die Legitimation für politische Kompromisse gaben, die beispielsweise in den Flüchtlingslagern des Libanon überaus unpopulär waren. Dort hatten die Menschen über mehr als ein Jahrzehnt hinweg die ganze Härte der israelischen Militärüberlegenheit hatten spüren müssen.

Die PLO profitierte überdies von zahlreichen Kadern, die von Israel deportiert wurden und sich im Exil der PLO anschlossen, wie zum Beispiel dem jetzigen Präsidenten des Palästinensischen Nationalrates, Scheich Abd al-Hamid al-Sayeh. Scheich Hamid wurde als erster nach 1979 ausgewiesen. Im PLO-Exekutivkomitee saßen auch die deportierten Bürgermeister von Hebron und Halhoul, Fahd Kawasmeh und Mohammed Melhem. Und Mahmoud Darwish, soeben wiedergewählter Dichter im palästinensischen Führungsgremium, stammt sogar aus dem heutigen Israel.

Umgekehrt wirkte das Exil auch nach „innen“. Nach dem „Schwarzen September“ in Jordanien identifizierte sich der Mann auf der Straße nicht länger mit dem Haschemitischen Königreich, und selbst Händler und Landbesitzer glaubten fortan an die Notwendigkeit eines eigenen Staates für die Palästinenser. Die Anerkennung der PLO durch die arabischen Staaten 1974, der Auftritt Arafats vor der UN-Vollversammlung und die Gewährung eines Beobachterstatus für die PLO in der UNO im gleichen Jahr wurden in den besetzten Gebieten mit unbeschreiblicher Begeisterung gefeiert; Massaker wie in den Flüchtlingslagern Tell al-Zaatar während des libanesischen Bürgerkriegs im August 1976 oder in Sabra und Shatila 1982 wurden mit tiefer Trauer aufgenommen. Die kollektive Identität der palästinensischen Nation bildete sich im schmerzlichen Prozeß weniger Siege und vieler Niederlagen heraus.

Mit dem Abzug der PLO aus Beirut im August 1982 und der Niederlage von al-Fatah gegen die Meuterer im Nordlibanon im Dezember 1983 wurde in den besetzten Gebieten eine Entwicklung beschleunigt, die etwa zwei Jahre zuvor mit der Gründung und Verbreitung der „Shabiba“ ihren Anfang genommen hatte. Die Shabiba sind das Rückgrat der seit fast vier Jahren dauernden Intifada. In der PLO-Führung war es vor allem Abu Jihad (Khalil al-Wazir), der die Organisierung der Jugendlichen förderte und somit eine längerfristige Strategie aufzubauen verstand. Als „Vater der Intifada“ wurde er am 16.4.88 von einem israelischen Kommando in Tunis erschossen.

Die Shabiba kontrollierte zuerst die Flüchtlingslager, vertrieb Kollaborateure und Rauschgifthändler und tat sich durch militante Angriffe auf die Besatzungstruppen hervor. Die Intifada fiel 1987 mithin nicht vom Himmel, sondern resultierte aus einer geduldigen Organisierung der palästinensischen Gesellschaft und einer ständig wachsenden Konfrontation mit den israelischen Besatzungstruppen. Für al-Fatah machte die Shabiba wett, was an Korruption und Vetternwirtschaft dem jordanisch-palästinensischen Komitee angelastet wurde, das seit 1978 arabische Gelder in den besetzten Gebieten verteilte und dabei bisweilen die sozialen Dimensionen aus den Augen verlor. Auch die palästinensische Linke überzeugte in den besetzten Gebieten mit einem breit gefächerten sozialen Engagement, sei es im Gesundheitswesen oder in der Landwirtschaft.

Als die PLO auf der 18. Nationalratssitzung in Algier im April 1987 die „nationale Einheit“ unter Teilnahme von PFLP, DFLP und KP wiederfand, beriefen sich die Protagonisten — noch vor der Intifada — auf den Aufstand des palästinensischen Volkes und seine militante Einheit. Umgekehrt konnten die PalästinenserInnen im Inneren bei der Bildung der Untergrundführung der Intifada auf die wiederhergestellte Einheit der PLO im Exil Bezug nehmen. Außerhalb dieses Rahmens steht heute Hamas, die sich, von der Besatzungsmacht als Gegenpol zur PLO gefördert, zur (verbal)radikalsten Gegnerin Israels aufzuschwingen vermochte. Nach dem Golfkrieg und dem Zusammenbruch in Osteuropa hat die palästinensische Linke weiter an Boden verloren. Über Jahre ohne wirkliche Alternative zur Politik der PLO-Mehrheit unter Arafat, erschöpft sich die Opposition von Volksfront und Demokratischer Front nicht selten in einer radikaler oder militanter klingenden Rhetorik.

Als soziales Modell durchgesetzt hat sich das Konzept von al-Fatah. Basierend auf einem eher konservativen Gesellschaftsverständnis muslimischer Prägung hat al-Fatah im Exil wie unter israelischer Besatzung die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen organisatorisch und politisch einbinden können. Die traditonell führenden Familien marschieren dabei scheinbar zwangsläufig wieder an der Spitze. Vertreter der Flüchtlingslager in den besetzten Gebieten wurden auch jetzt erst nach heftigen Protesten in das „Beratungsteam“ für Madrid aufgenommen. Die „nationale Einheit“ ist für die PalästinenserInnen trotz aller Widersprüche und Brüche gleichwohl kein Fetisch. Yassir Arafat und Feisal Husseini verkörpern heute diese Einheit zwischen „innen“ und „außen“ — nicht ganz zufällig auch im verwandschaftlichen Sinne.

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