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Wieso gibt es keine Musik im Radio?

Eine Frage und zu viele Antworten. Notizen vom Rande des Prix Italia  ■ Von Elisabeth Eleonore Bauer

Der Musikredakteur stutzt und fragt zurück: Liegt denn nicht rund um die Uhr Musik genug in der Luft? Haben wir nicht für jede Programmschiene eine ganz spezielle Musikfarbe? Für jedes Töpfchen ein Deckelchen? Jedem Tierchen sein Pläsierchen? Musik! Musik! Musik?

Hörer wünschen Klassik zum Frühstück am Morgen, zu Mittag und am Abend, zur Nacht das Mitternachtskonzert. Hits & Tips & Top of the Pops & Oldies are goldies a gogo & everytime is jazztime. Alte Musik Spezial und Neue Musik Extra und die Musikstunde für den Opernfreund für schöne Stimmen für Kenner und Liebhaber aus dem Musikarchiv frisch vom Plattenmarkt aus dem Konzertsaal die Musikpodiummosaikpromenadenpanoramatafelmusik. Wir machen Musik, da bleibt euch die Luft weg. Da geht euch der Hut hoch. Danke, das genügt.

Es ist wohl wahr: Radiodays sind Musicdays. Die Wortanteile werden immer kürzer, und die musikalische Okkupation des Luftraums kennt keine Ränder mehr noch Grenzen. Um so verblüffender, wie wenig Radiomusik es zu hören gab in der Kategorie „Radio Music“ beim Prix Italia! Der fand in diesem Jahr in Pesaro statt — und immerhin waren da neunzehn Musikprogramme aus aller Herren Länder angetreten, das Beste vom Besten zu bieten, was die Radiomusik-Produktion 1990/91 international hervorgebracht hat. Die bedauerliche Bilanz: Rund ein Drittel der Musikprogramme hat mit Musik nur am Rande zu tun, und der Rest bräuchte das Radio nicht. Könnte ebensogut oder besser im Konzertsaal stattfinden oder gar auf der Opernbühne. Da gab es: die althergebrachte Neue Musik, mit oder ohne elektronische Zutat; gewöhnliche Wortsendungen, mehr oder weniger hübsch mit Geräusch garniert; konventionell gemachte Interviews oder Porträts, so spannend oder so einschläfernd, wie es jeweils die Musiker sind, die da gerade interviewt oder porträtiert werden. Drei Quasi- Hörspiele mit teils kluger, teils dummer und teils überflüssig aufwendiger musikalischer Illustration, zweimal schlechter Schulfunk, ein mittelprächtiges sowie ein glänzend gemachtes Bildungsprogramm, und zu guter Letzt noch eine Weltanschauungsoperette mit genauen Regiehinweisen, was es, derweil man zuhört, nebenbei noch zu gucken gäbe, hätte es finanziell für ein TV-Programm gereicht. Zu viel Vogelgezwitscher und Windgeheul, viel zu viele Zitate und Zugaben, viel zuwenig Musik. Vor allem kaum echte Radiomusik.

Der Prix Italia ist nicht nur der größte internationale Medienwettbewerb, er war ursprünglich eigentlich ein reiner Radiopreis: 1948 auf Capri ins Leben gerufen mit dem erklärten Ziel und Zweck, daß sich alljährlich die Radiomacher aus aller Welt treffen und messen mögen, auf daß die ästhetische Qualität der Radiokunst weltweit immer neue Impulse erhalte. Mittlerweile ist das TV das Wichtigste am Prix geworden und das Radio ein luxuriöses Orchideenfach am Rande. Und insbesondere geht das, was beim Prix als „Radio Music“ auftritt, an der Realität dessen, was das Radio tatsächlich tagtäglich an Musik in den Äther schickt, vorbei und vornehm zugrunde. Wofür es gewiß gute Gründe genug gibt.

Gründe:

Erstens nämlich fragt der Prix nach radiophoner Qualität und nach ästhetischer Innovation. Aber den Löwenanteil an Radiomusik halten die Sparten Pop, Rock und Schlager, kurz: die kommerzielle Unterhaltungsmusik — und die ist, weil ästhetisch indiskutabel, sowieso schon mal gar nicht wettbewerbsfähig. Und auch mit der Klassikschiene läßt sich, was Qualität und Innovation anbelangt, so recht kein Blumentopf gewinnen. Da wird ja der harte Kern des Programms bekanntlich bestritten von Haydn, Beezart und Mothoven, flankiert von der Restmusik des vorigen Jahrhunderts (also von Wagnerverdirossini einer- und Schubertschumannbrahms andererseits), ergänzt durch den gelegentlichen Rückblick auf Schachbändelhütz, den Seitenblick auf einige bewährte Kleinmeister und den Ausblick auf die sogenannte Musik des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Radioklassik ist also mindestens ebenso nekrophil, wie es sowieso schon der Konzertbetrieb und der Plattenmarkt sind: greift stets aufs Neue in die immer gleichen Kisten und holt das immer gleiche Zeug vor von jener Handvoll längst verstorbener Menschen, die zu anderer Zeit für ganz andere Ohren komponiert und sich nie haben träumen lassen, daß dies nun die vielberufene Ehrung durch die sogenannte Nachwelt sein soll: ein in Sparten erstarrtes Musikmuseum.

Zweitens sind das natürlich Binsen. Gewiß kann ausgerechnet das Radio nichts für den musealen Staub auf der abendländischen Musikkultur. Aber es hat, als es noch ein einigermaßen junges oder vielmehr: ein halbstarkes Medium war, durchaus Versuche gegeben, neue radiophone Hörformen zu entwickeln und mit den Tabus des Musikbetriebs zu brechen. In den zwanziger Jahren zum Beispiel kam die merkwürdige Gattung der Funkoper auf. In den fünfziger Jahren dann, als gerade der deutsche Rundfunk einiges wieder gutzumachen hatte an der Avantgarde, waren es die Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung, die das Radio mit der Neuen Musik verbrüderte: das Faszinosum einer Musiksprache, die technisch nur im Studio zu produzieren und auch nur aus Lautsprechern zu hören ist. Fast alle Sendeanstalten taten sich hervor als Förderer experimenteller Neuer Musik. Der Südwestfunk zum Beispiel rief 1950 die von den Nazis eingestampften Donaueschinger Musiktage wieder zurück ins Leben, der Nordwestdeutsche Rundfunk eröffnete 1951 ein Sonderstudio für elektronische Musik. Diese schönen Pioniertage fielen übrigens zusammen mit den Gründerjahren des Prix Italia — und nicht zufällig stammen auch die ästhetischen Maßstäbe, die heute noch durch den Wettbewerb geistern, aus jener guten alten Zeit.

Die ist drittens Geschichte geworden, aus und vorbei. Elektronische Klangerzeugung hat längst die Unterhaltungsmusik durchwuchert — und sie ist außerdem ein kompositorisches Mittel unter anderen geworden. Im übrigen steht das, was heute im Konzertsaal an Live-Elektronik praktiziert wird, den technischen Möglichkeiten der puren Studioproduktion in nichts mehr nach. Es gibt also grundsätzlich keinen Unterschied mehr zwischen Radiomusik, die nur im Radio möglich ist, und Neuer Musik. Oder vielmehr: das spezifisch Radiophone an Musik, die vom Radio übertragen wird, ist nur, daß sie vom Radio übertragen wird. Nichts weiter als ein weißer Schimmel.

Gegenbeispiele

Immerhin drei Musikprogramme beim diesjährigen Prix waren außerordentlich anders. Eines leistete sich den nostalgischen Luxus, die Ideale der alten Radiokunst hochzuhalten, so, als wäre seither nichts passiert — und prompt gab es dafür einen Spezialpreis: Luc Ferraris Treppe der Blinden (La Escalinata de los ciegos, produziert für das Radio Nacional de Espana). Dreizehn Kurzgeschichten über die Liebe zur Stadt Madrid, komponiert aus O-Tönen, Alltagsgeräuschen und aus verfremdeter Musik- und Menschensprache. In der Tat ist diese Collage nur im Radio möglich — eine imaginäre Ortsbeschreibung, ein perfekt musikalisierter Raum; aber zugleich auch ein emphatisches Bekenntnis zur Künstlichkeit der eigenen Kunst — unübersetzbar und einmalig exklusiv. Ferrari hat damit einen Solitär geschaffen, der entzückend altmodisch anmutet: Er geht stolz immer noch davon aus, daß Musik erst da entsteht, wo man nichts versteht.

Dabei versteht sich doch die Musik, die tagtäglich aus den Radios schwappt, nach spätestens drei Takten ganz von selber. Diesem Umstand trug der Gewinner des Prix Italia Rechnung — ein Bildungsprogramm, gemacht für jedermann und geradezu reißerisch populär: Who paid the piper — eine Sendung von Richard Stilgoe für die BBC. Und in der Tat: Dieses nur dreißig Minuten kurze Ideenfeuerwerk kann als ein göttlicher Glücksfall gegenwärtiger Radiokunst nicht hoch genug gepriesen werden. War es doch der einzige Musikbeitrag beim Prix, der repräsentativ zu nennen ist für das, was das Radio rund um die Uhr an toter Musik absondert. „The music“, so heißt es in der Ansage, „is by almost everybody“ — und der Begleittext präzisiert: „Die Musik bringt fast jedes Stück, das Sie jemals gerne wiederhören wollten.“

Allerdings von allem, wie es ja dem Radioalltag nur adäquat ist, bloß ein Appetithäppchen: Halsbrecherische Kreuzblenden führen uns im Geschwindmarsch von Bach bis Beethoven, von Wagner bis Verdi, von Purcell bis Phil Glass — unerhörte Neutextierungen klären uns auf über den Sinn von Händel-Arien und enthüllen die wahre Geschichte des Minutenwalzers von Chopin — sogar die schönste Pause von John Cage sitzt am rechten Fleck. Dazu erzählt Stilgoe in schaurigschönen Knittelversen die komplette Sozialgeschichte der abendländischen Musik: vom ersten Flötenton des Gottes Pan bis zum Gesang der Kettensägen, die den Urwald am Amazonas vernichten, auf daß genügend Papier produziert werde für genügend Noten und Banknoten. Denn darum geht's am Ende: Wer bezahlt den Pfeifer?

Richard Stilgoe, der Donnerblitzbub, der sich dies rasante radiophone Bildungsprogramm ausgedacht hat, verdient sein Geld jedenfalls nicht in erster Linie auf der Klassikschiene, sondern im Souterrain der kommerziellen Unterhaltungsmusik (er textete zum Beispiel für Andrew Lloyd Webbers Welterfolge Cats, Starlight Express und The Phantom of the Opera). Im übrigen ist Stilgoe, wie etwa auch der frischgebackene Opernkomponist McCartney, ein Angelsachse. Und als solcher offenbar nicht mit der schweren, historischen Hypothek belastet, die hierorts die deutschen Radiomacher immer noch daran hindert, den hochheiligen Bach oder den hehren Beethoven als das zu verkaufen, was sie in Wahrheit auch fürs Radio längst geworden sind: Unterhaltung.

Herumhuren

Nennen wir es meinethalben, damit es nicht zu sehr schmerzt: „gehobene Unterhaltung“. Es gibt meines Wissens in der gesamten ARD nur eine einzige solcherart ausgewiesene Stelle, die nicht der üblichen strengen Spartentrennung zwischen E- und U-Musik unterworfen ist. Und dabei wäre doch gerade das vielleicht eine kleine Lehre, die aus der traurigen Lage der Radiomusik beim diesjährigen Prix zu ziehen ist: daß nur eine ganz neue Gemengelage, ein munteres Herumhuren zwischen Kunst und Kitsch, Bach und Beatle, Mahler und Madonna endlich jene innovativen Kräfte freisetzen kann, die das Musikprogramm im Radio so dringend braucht. Nicht etwa als ein Kotau vor dem Markt oder dem, was man gemeinhin meint, was die Hörer so wünschen.

Die wünschen sich gewiß zu allerletzt, daß sie für dumm verkauft werden. Das wahre Wunschkonzert müßte ungefähr so sein, wie es die Komponistin Tona Scherchen in ihrem Jeu de po-go (Radio France) beim Prix vorgeführt hat: eine Komödie über das Drama mit den Tönen aus dem Radio, ein ernsthaftes Spiel mit Hörgewohnheiten und Erinnerungen. Scherchens Jeu de po-go probt das Wellenreiten mit dem, was Radiomusik früher einmal war. Das freilich heißt so viel wie: der Ritt über dem Bodensee auf einem weißen Schimmel.

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