Schweden verstößt gegen Menschenrecht

Europäischer Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Königreich/ Chemiker Helmers erringt Sieg nach 17 Jahren  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Ein Prozeß gegen einen Beschuldigten, gestützt auf anonyme Anschuldigungen, ohne Verteidigungsmöglichkeit und unter Ausschluß des Beschuldigten vom Verfahren — was ganz nach Kafka klingt, hat sich im Rechtsstaat Schweden abgespielt und reicht 17 Jahre weit zurück. Jetzt hat der Fall dem Land eine Verurteilung wegen Menschenrechtsverstoßes durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg eingebracht. Am Dienstag haben die Straßburger RichterInnen Reinhard Helmers in seiner Klage Recht gegeben. Das Königreich habe gegen Artikel 6 der Menschenrechtskonvention verstoßen, weil es ihm einen öffentlichen Prozeß und eine mündliche Verhandlung versagt habe, um sich gegen falsche Anschuldigungen zu wehren.

Zugrunde liegt ein Berufsverbot. Dem Chemielektor Helmers wurde 1974 eine Hochschulstelle an der südschwedischen Universität Lund verweigert, weil er mehrfach auf Berufungslisten für die Universität Bremen aufgeführt gewesen sei, welche „bekanntlich linksradikal“ sei. Der verantwortliche Beamte wurde in einem von Helmers angestrengten Verfahren freigesprochen. Nach einem in Schweden gültigen „Ausnahmegesetz“ gehörte er zur Kaste der 8.000 obersten Staatsdiener, die für Dienstvergehen von Privatpersonen nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten.

Dann wurde der Spieß umgedreht: Gegen Helmers lief ein Geheimverfahren ohne dessen Beteiligung. Mehrfach wanderten Prozesse und Gegenprozesse durch alle Gerichtsinstanzen. Einzige Genugtuung für den mittlerweile 61jährigen, dem die Universitätskarriere verbaut wurde: Die Publizität seines Falls und die drohende Verurteilung Schwedens durch den Menschenrechtsgerichtshof führten 1981 zur Aufhebung des „Ausnahmegesetzes“.

Im April 1990 erhob die Menschenrechtskommission wegen des Geheimverfahrens und des Verstoßes gegen ein Grundrecht — in Schweden gibt es keine Verfassungsrechtsbarkeit — Klage gegen den schwedischen Staat. Bei ihrer Verteidigung nahm die Regierung in Stockholm ausgerechnet auf das Beispiel Stammheim Bezug: Bei den RAF-Verfahren seien schließlich auch die Angeklagten zeitweilig ausgeschlossen worden, ohne daß der Menschenrechtsgerichtshof das verurteilt hätte. Jetzt hatten die neun Straßburger RichterInnen Gelegenheit klarzustellen, daß, was ausnahmsweise für Stammheim akzeptiert worden war, künftig nicht von jedem Gericht als Rechtfertigung herangezogen werden kann.

Auf eine Wiedergutmachung muß Helmers, der jahrelang in Schweden als „Querulant“ denunziert wurde, trotz des Straßburger Urteils weiter warten: Was die Hochschulstelle angeht, gibt es keine rechtliche Möglichkeit für ein Wiederaufnahmeverfahren oder Schadensersatz. Der Chemiker hofft trotzdem auf eine Rehabilitierung: Als eine ihrer ersten Amtshandlungen hatte Schwedens neue bürgerliche Regierung einem Autohändler, dem wegen des falschen Verdachts der Steuerhinterziehung die Existenz zerstört worden war, „gnadenweise“ einen Schadenersatz von einer Million Kronen (365.000 DM) zuerkannt. Auch hier hatten die Gerichte eine Verpflichtung zum Ersatz des durch staatliches Unrecht entstandenen Schadens abgelehnt.