Drei Schritt zurück, Genosse Lenin!

■ Paradox: Kurz vor dem Abriß des Lenin-Denkmals in Ost-Berlin entbrannte unter der toten Statue die lebendigste Diskussion um den Marxismus-Leninismus seit dem I. Parteitag der SED

Drei Schritt zurück, Genosse Lenin! Paradox: Kurz vor dem Abriß des Lenin-Denkmals in Ost-Berlin entbrannte unter der toten Statue die lebendigste Diskussion um den Marxismus-Leninismus seit dem I. Parteitag der SED

Eine alte Frau mit Krückstock bleibt abrupt stehen. „Wat is denn det hier?“ fragt sie erstaunt in die Runde der Diskutierenden, die sich neben einem ausrangierten NVA-Laster gebildet hat. Auf dem Gefährt liegt eine drei Meter große Statue, durch den grauen Anstrich schimmert der Rost durch, die Hände umklammern ein scharfes Schwert. Es ist kein Proletarierführer, der da liegt, sondern ein Adliger: Reichsgründer Otto von Bismarck. „Kommt det Ding nu hierher?“ fragt sie verwundert einen jungen Mann. „Nee, Oma, det is doch nur nen Gag“, gibt der schmunzelnd zurück. In der Tat: Die verkleinerte Nachbildung des Reichsgründers von 1871, die Mitglieder des „Anachronistischen Zuges“, einem Unterstützerkreis verschiedener linker Gruppierungen, herangefahren haben, sorgt an diesem Vormittag für weit mehr Aufsehen als die Abrißmaßnahmen an der wenige Meter entfernten Lenin-Statue.

Dort sind zwar keine 200.000 — wie einst bei der Einweihung des Denkmals durch Walter Ulbricht vor 21 Jahren. Doch haben sich an diesem Herbsttag mehrere hundert Menschen zusammengefunden. Viele schießen die letzten Abschiedsbilder und ereifern sich ansonsten darüber, ob Lenin „ein Massenmörder war, der Millionen auf dem Gewissen hat“, wie ein junger Angestellter in die Runde brüllt. Die Meinungen gehen hin und her, die Emotionen schlagen hoch. Es ist paradox: Wohl zum ersten Mal beginnt unter der toten Statue eine lebendige Diskussion über die „Lehren Lenins“.

Derweil spielt sich hinter dem Bauzaun eher harte Realität ab. Langsam verschwindet die 19 Meter hohe rote Granitstatue hinter einem Gerüst, Planierraupen schaffen einen Zufahrtsweg über den Platz. Eigentlich hätte die Umrüstung längst fertig sein sollen. Doch in der Nacht zuvor war ein 39jähriger Mann auf das Gerüst geklettert und hatte in aller Seelenruhe Bolzen gelockert und Begehungsplatten den eilig herbeigerufenen Polizisten vor die Füße geworfen. Schließlich wurde er festgenommen.

Der Vorfall bleibt eine Ausnahme in einer Diskussion, die sich bisher eher unter Denkmalschützern und Senatsmitgliedern abspielte. Denn um das einzige Lenin-Denkmal der Stadt tobt seit einem halben Jahr ein heftiger Streit. Er spitzte sich zu, als der Umwelt- und Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer (CDU) vor Wochen beschloß, das Monument realsozialistischer Herrschaftskunst aus der Berliner Denkmalliste zu streichen. Damit war der Weg frei für den Abriß. Bis zu seiner endgültigen Bestimmung könnte es in Berlin- Buch zwischengelagert werden. Eine Entscheidung steht noch aus, wie Baustellenleiter Jürgen Erichson am Fuße der Statue erklärt. Seine Firma „Naturstein-Vertrieb in Berlin GmbH“ hat mit dem Abriß von Denkmälern bisher noch keine Erfahrung. Ausschlaggebend war das Angebot an den Berliner Bausenat, der für den Abriß zuständig ist. Unter 100.000 hätten sie gelegen, so Erichson, der zugibt, „lieber Denkmäler auf- als abzubauen“.

Der Lenin im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain erweist sich als harter Brocken: Aus den ursprünglich für den Abriß anvisierten drei Tagen sind nun schon acht geworden. Denn in seinem Innern verbirgt sich ein Stahlbetonkern, der von Eisenbahnschienen durchzogen ist. Mit Preßlufthammern und Brenngeräten will man Lenin nun entkernen. Bevor es an seine Innereien geht, haben die Erben des sowjetischen Architekten Nikolaij W. Tomskij gestern in aller Eile eine Klage gegen das Land Berlin angestrengt. Severin Weiland, Berlin