: Vorsicht, Kamera!-betr.: "Der indiskrete, böse Blick" von Eugenia Erazo, taz vom 9.11.91
betr.: „Der indiskrete, böse Blick“ von Eugenia Erazo,
taz vom 9.11.91
Varanasi, das alte Benares, am Ganges gelegen und von Sagen umwoben. Der Monat März ist die beste Zeit für die Touristen aus dem Westen, um sich der Stadt und dem Fluß anzunehmen. Es ist nicht so heiß, und die vielen aufdringlichen Menschen sorgen für die erwartete Hitze und Enge.
Varanasi ist die Stadt der Ghats. Die Ghats sind Stellen am Ufer des heiligen Flusses Ganges, wo auch heute noch, unter Aufsicht unzähliger Touristen, ritualisierte Handlungen durchgeführt werden.
Aber wie sagte schon der kluge DuMont-Reiseführer Nordindien: „Man hat Varanasi nicht gesehen, wenn man die Ghats nicht bei Sonnenaufgang vom Fluß aus erlebt hat.“ Sehr richtig, sehenswert sind sie auf jeden Fall, allerdings in der anderen Richtung: Verlasse kurz vor Sonnenaufgang deine Lodge und begib dich zum Dasaswamedh-Ghat (hier soll nämlich der Weltenschöpfer Brahma das Zehnpferdeopfer vollzogen haben), setz dich ans Ufer und harre der Dinge, die da kommen. Mit dem Aufgehen der Sonne wirst du Zeuge der rituellen Waschungen der Hindus, ein wunderbarer Anblick. Im Hintergrund, hinter der anderen Seite des Flusses, die aufgehende, rote Sonne, hinter deinem Rücken die erwachende Stadt und vor deinen Augen Menschen, die es noch verstehen, mit der Natur zu leben.
Doch halt, beginne nicht etwa über den Sinn des Lebens zu meditieren, sondern richte den Blick flußabwärts. Aus der Morgendämmerung lösen sich viele kleine Ruderboote vom Ufer. Besetzt sind sie mit vielen hellen Menschen, je mehr Boote, desto besser, denn es geht um den Kamerastandort. Und was du insgeheim befürchtet hast, tritt ein: Die Boote sind auf der Höhe der sich mit dem Ganges-Wasser reinigenden, teilweise nackten Menschen angekommen. Unzählige Lichter durchzucken die Dämmerung, wer den besten Blitz an seiner ohnehin teuren Kamera hat, kann sich der schönsten, naturgetreusten Bilder sicher sein.
Die zerstörte Harmonie treibt dich weg, du beschließt, nie wieder eine Kamera mit auf die Reise zu nehmen.
Die Skrupellosesten allerdings begeben sich am gleichen Tag noch zum Jalasai-Ghat, dem Hauptverbrennungsplatz für die Toten. Doch Vorsicht, DuMont sagt: „Man sollte das absolute Fotografierverbot strengstens beachten, will man nicht mehr als nur den Verlust der Kamera riskieren.“ Vielleicht klappt die Aufnahme ja heimlich — Vorsicht Kamera. Stefan Blank, Konstanz
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