: Warum eine Jordanierin in der Schule Türkisch lernt
■ Mehr als 5.000 Berliner Schüler sind in Ausländerregelklassen untergebracht/ Türkischer Elternverein: Idee steht der Integration im Weg
Berlin. Mehr als 200.000 Kinder und Jugendliche drücken in diesem Jahr die Westberliner Schulbänke. Jedes fünfte von ihnen hat keinen deutschen Paß. Zwar leben die meisten bereits in der zweiten oder dritten Generation in der Bundesrepublik, doch über 5.000 von ihnen werden nicht gemeinsam mit deutschen Kindern unterrichtet, sondern lernen in sogenannten Ausländerregelklassen unter sich.
Allein an Kreuzbergs Grundschulen sind 1.380 von knapp 3.000 ausländischen Schülern in 66 Ausländerregelklassen untergebracht. Die Zusammensetzung der Klassen ist oft kurios. So kämpft in Schöneberg der Vater der siebenjährigen Hina gerade um eine Neumischung der Klassen. Seine Tochter ist die einzige Jordanierin unter türkischen Kindern — und versteht von der Konversation der übrigen Kinder kein Wort.
Höchstens 30 Prozent Ausländeranteil beträgt die Quote, nach der Berliner Schulklasen zusammengesetzt werden. In Ausnahmefällen wird der Anteil auf 50 Prozent aufgestockt. Der höhere Ausländeranteil in manchen Bezirken (in Kreuzberg ist nahezu jedes zweite Kind ausländischer Herkunft) wird dort mit Ausländerregelklassen aufgefangen.
Darüber, daß diese Klassen nicht ideal sind und der Idee der Integration entgegenstehen, sind sich alle einig. Doch bei der Suche nach sinnvollen Alternativen gehen die Meinungen auseinander. Während der türkische Elternverein für die Abschaffung der Ausländerregelklassen plädiert, halten die meisten Schulstadträte diesen Weg für nicht gangbar.
Deutsche Familien wanderten reihenweise in angrenzende Gebiete ab, sobald ihr Kind in eine ausländerreiche Klasse gesteckt werde, berichtet Schönebergs Schulstadträtin Karla Werkentin (AL). »Viele Eltern fürchten um die Qualität der Ausbildung ihrer Kinder und melden sie just zum Schulanfang bei ihrer Oma in Steglitz an.«
Die »Bussing-Variante« für ausländische Kinder, bei der sie mit dem Bus zu anderen Schulen gefahren werden, um die magischen 30 Prozent nicht zu überschreiten, klappt in der Regel nicht. Ihre Eltern wollen ihre ABC-Schützen nicht in eine ferngelegene Schule schicken.
Werkentin plädiert für eine zweisprachige Alphabetisierung der Kinder in weiterhin getrennten Klassen. Denn: »Im Moment werden die Kinder zweisprachige Analphabeten«, so Werkentin. »Weder ihre Muttersprache noch die deutsche lernen sie richtig.« Meist sei es für Kinder einfacher, erst in der Muttersprache lesen und schreiben zu lernen und dann, darauf aufbauend, eine zweite Sprache anzugehen.
In 17 Berliner Grundschulen werden in einem Modellversuch Schüler zweisprachig alphabetisiert. So lernen die Schüler an der Kreuzberger Nürtingen-Grundschule bereits seit 1986 mit einer zweisprachigen Fibel in Deutsch und in Türkisch. Nacheinander werden den Kindern gleichlautende Buchstaben in beiden Sprachen erklärt. Nach ersten Erkenntnissen sind die Erfolge ausgesprochen gut. Im kommenden Jahr wird entschieden, ob diese Form der Ausbildung ausgebaut werde. Schulrätin Dagmar von Loh in der Berliner Schulverwaltung befürwortet diese Idee. »Aber man muß auch sehen, daß es ein sehr teures Konzept ist.« Statt einen brauchen die Grundschüler zwei Lehrer — einen türkischen und einen deutschen.
Der türkische Elternverein lehnt Ausländerregelklassen allerdings ganz ab: »Die meisten Kinder verlassen die Klassen ohne Abschluß«, erzählt Irfan Kizgin. Außerdem sei es fatal, von »Ausländerregelklassen« zu reden. »Diese Kinder sind hier geboren, und es ist auch das Problem der Deutschen, wenn sie mit ihnen nicht leben können.« Außer einem Ausbau der zweisprachigen Ausbildung fordert der Elternverein neue Inhalte in der Schule. Denn die türkischen Kinder finden nahezu nichts von ihrer Kultur in deutschen Schulbüchern wieder. Oft fehlt ihnen der Bezug zu den Inhalten. »Weder die dreißigjährige Migrationsgeschichte noch Unterricht über andere Kulturen sind bisher im Lehrplan enthalten.« Das, so Kizgin, sei auch für die deutschen Kinder wichtig. »Denn solange sie nicht verstehen, warum wir hier sind und wer wir sind, werden immer wieder Eltern ihre Kinder in andere Bezirke schicken.«
Die Statistik des Landesarbeitsamtes stellt dem Berliner Bildungssystem jedenfalls ein Armutszeugnis aus. Ein Drittel der ausländischen Schüler in Berlin verlassen die Schule ohne Abschluß (gegenüber 11,8 Prozent der Deutschen). jgo
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