: Der Moment, bevor der Schuß fiel
Eine Erzählung ■ Von Nadime Gordimer
Marais Van der Vyver hat einen seiner Farmarbeiter erschossen. Ein Unfall, an jedem Tag der Woche geschehen Unfälle mit Schußwaffen — Kinder, die ein tödliches Spiel mit Vaters Revolver spielen, in den Städten, wo Pistolen heutzutage Haushaltsgegenstände sind, Jagdunfälle wie dieser auf dem Lande —, aber die werden nicht in die ganze Welt hinaustrompetet. Van der Vyver weiß, daß seinem Unfall genau das geschehen wird. Er weiß, daß die Geschichte des Burenfarmers— des örtlichen Parteiführers und Kommandanten des Sicherheitskommandos —, der einen schwarzen Mann erschießt, welcher für ihn arbeitete, ganz genau in ihre Version Südafrikas passen wird, es ist wie für sie gemacht. Sie werden es in ihren Boykott- und Sanktionskampagnen gebrauchen können, es ist ein weiteres Mosaiksteinchen in ihrer Wahrheit über das Land. Die Zeitungen hier werden die Geschichte so zitieren, wie sie in der Auslandspresse erschienen ist, und in dem Hin und Her werden er und der schwarze Mann zu diesen grobgezeichneten Figuren auf Anti-Apartheid-Spruchbändern werden, Teil der Statistik über weiße Gewalt gegen die Schwarzen, die vor den Vereinten Nationen zitiert wird — er, den sie triumphierend „ein führendes Mitglied“ der herrschenden Partei werden nennen können.
Die Leute in der Landgemeinde verstehen, wie er sich fühlen muß. Schlimm genug, einen Mann getötet zu haben, ohne dazu auch noch den Feinden der Partei, der Regierung, des Landes zu helfen. Sie sehen, daß es wirklich so ist. Wenn sie die Sonntagszeitung lesen, wissen sie, daß keiner dieser Amerikaner und Engländer und keiner dieser Leute hier im Lande, welche die Macht des weißen Mannes zerstören wollen, Van der Vyver glauben, wenn er sagt — das ist in der Zeitung wiedergegeben—, daß er „schrecklich schockiert“ ist und daß er sich um die Frau und die Kinder kümmern wird. Und wie diese Leute höhnisch auflachen werden, wenn er über den Farmboy sogar sagt (einer Zeitung nach, wenn man diesen Reportern überhaupt trauen kann): „Er war mein Freund, ich habe ihn immer zur Jagd mitgenommen.“
Die Leute in Übersee und in den Städten hier wissen das gar nicht, aber es ist wahr: die meisten Farmer haben jemand Besonderen unter den Schwarzen, einen Jungen, den sie gerne bei sich haben, wenn sie hinausfahren auf ihr Land; man könnte ihn eine Art Freund nennen, ja, Freunde sind nicht nur die Weißen, wie man selbst einer ist, Leute, die man in sein Haus einlädt, mit denen man in der Kirche betet und im Parteikomitee zusammenarbeitet. Aber wie sollen sie das wissen, diese Leute? Sie wollen es gar nicht wissen. Sie glauben, alle Schwarzen sind wie die großmäuligen Unruhestifter in den Städten. Und Van der Vyvers Gesicht auf den Fotos, so seltsam bloßgelegt vom Schmerz — jeder im Distrikt erinnert sich daran, wie der kleine Marais Van der Vyver immer fortlief und sich versteckte, wenn er bemerkte, daß man ihn anlächelte, und alle kennen ihn jetzt als einen Mann, der sich hinter seinem vollen, weichen Schnurrbart versteckt, damit keiner es sieht, wenn der Ausdruck um seinen Mund sich verändert, und der den Blick immer auf etwas gesenkt hält, womit seine Hand sich beschäftigt — einen Getreidehalm, einen Kugelschreiber, einen Stein —, während er sich auf das konzentriert, was er sagt oder was ihm gesagt wird. Da sieht man, was der Schock anrichten kann; wenn man die Fotos in den Zeitungen betrachtet, hat man fast das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, als hätte man einen Blick in ein Zimmer getan, in dem man nichts zu suchen hat.
Es wird eine Untersuchung geben, und das ist auch besser so, um jeden Verdacht im Keim zu ersticken, es könnte sich hier um einen weiteren Fall von Brutalität gegenüber Farmarbeitern handeln, obwohl es in diesem Fall nicht den geringsten Zweifel gibt — ein Unfall, und Van der Vyver hat den Hergang des Geschehens genau zu Protokoll gegeben.
Gleich als er mit dem Toten in seinem Wagen bei der Polizeiwache ankam, hat er seine Aussage gemacht. Captain Beetge kennt ihn natürlich gut; er gab ihm einen Brandy. Er zitterte, dieser große, ruhige, kluge Sohn Willem Van der Vyvers, der die beste Farm des alten Mannes geerbt hat. Der Schwarze war mausetot, dem war nicht mehr zu helfen. Beetge wird niemandem erzählen, daß Van der Vyver nach dem Brandy geweint hat. Er schluchzte, und der Rotz tropfte ihm auf die Hände wie einem schmutzigen kleinen Jungen. Der Captain schämte sich für ihn und ging hinaus, um ihm Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fassen.
Marais Van der Vyver verließ sein Haus um drei Uhr nachmittags, um einen Bock aus der Herde Kudus auszuschießen, die er in den Buschzonen seiner Farm hegt. Er interessiert sich für das Wildleben und betrachtet es als die heilige Pflicht des Farmers, nicht nur Rinder zu züchten, sondern auch für den Fortbestand des Wildes zu sorgen. Wie gewöhnlich fuhr er bei seinem Werkzeugschuppen vorbei, um Lucas mitzunehmen, einen zwanzigjährigen Landarbeiter, der eine Begabung für technische Dinge gezeigt hatte und den Van der Vyver selbst in der Wartung von Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Geräten unterwiesen hatte. Er hupte, und Lucas sprang wie gewohnt auf den offenen Lastwagen auf. Es machte ihm Freude, auf das Fahrerhaus gestützt und nach vorn gebeugt, da oben mitzufahren, von wo er das Wild noch vor seinem Arbeitgeber erspähte.
Van der Vyver hatte ein Gewehr und 12-mm-Patronen neben sich im Fahrerhaus. Es war eines der Gewehre seines Vaters, weil sein eigenes beim Büchsenmacher in der Stadt war. Seit dem Tod seines Vaters (Beetges Sergeant schrieb „seit dem Hinscheiden“) hatte niemand das Gewehr benutzt, und daher war er sicher, daß es nicht geladen war, als er es aus dem Schrank nahm. Sein Vater hatte nie ein geladenes Gewehr im Haus geduldet, ihm selbst war schon als Kind eingeschärft worden, daß man niemals eine geladene Waffe im Fahrzeug mit sich führen darf. Dieses Gewehr aber war geladen. Auf der Fahrspur im Gelände schlug Lucas dreimal mit der Faust auf das Dach des Fahrerhauses, um zu signalisieren: Augen links. Als Van der Vyver eine weißwellig gezeichnete Flanke erspähte und die schönen Hörner eines Kudu durchs deckende Geäst brechen sah, fuhr er ziemlich schnell durch ein Schlagloch. Der Ruck löste den Schuß aus. Das Gewehr stand senkrecht, und die Mündung wies durch das Dach des Fahrerhauses direkt auf Lucas' Kopf. Die Kugel bohrte sich durch das Dach und drang Lucas durch die Kehle ins Gehirn.
Das ist die Aussage zum Hergang des Geschehens. Trotz seines hohen Ansehens im Distrikt mußte Van der Vyver, dem Ritual gehorchend, beschwören, daß sie der Wahrheit entsprach. Sie wurde zu Protokoll genommen und wird in der Wache bei den Akten liegen, solange Van der Vyver lebt und darüber hinaus, solange seine Kinder Magnus, Helena und Karel leben — es sei denn, die Lage im Land verschlimmert sich, und das Beispiel des schwarzen Mobs in den Städten macht auch in ländlichen Gebieten Schule, und die Wache wird eines Tages niedergebrannt wie so viele Polizeiwachen in den Städten. Denn nichts, was die Regierung tun kann, wird die Agitatoren und die Weißen, die sie ermutigen, beschwichtigen. Sie sind mit nichts zufrieden in den Städten: Schwarze können dort jetzt in weißen Hotels sitzen und trinken, das Gesetz, der Immorality Act, ist aufgehoben, Schwarze können mit Weißen schlafen... Es ist nicht mal mehr ein Verbrechen.
Van der Vyver hat einen hohen Sicherheitszaun um sein Farmhaus und seinen Garten, der nach Ansicht seiner Frau Alida die Wirkung ihres künstlichen Bachs mit den Farnen unter den Jakarandabäumen völlig verdirbt. Im Hinterhof ragt eine Antenne wie ein Flaggenmast in die Höhe. Alle seine Fahrzeuge,auch der Lastwagen, auf dem der Schwarze starb, sind mit Antennen ausgerüstet, die wie Peitschen hin- und herschnellen, wenn der Wagen durch ein Schlagloch fährt: Sie sind Teil des Sicherheitssystems, das die Farmer des Distrikts eingerichtet haben. Jede Farm ist vierundzwanzig Stunden am Tag mit jeder anderen über Funk in Verbindung. Es ist schon vorgekommen, daß von jenseits der Grenze eingeschleuste Agenten abgelegene Feldwege vermint haben und weiße Farmer mit ihren Familien bei einem Sonntagspicknick auf ihrem eigenen Land ums Leben kamen. Als der Wagen durch das Schlagloch rumpelte, hätte eine Mine explodieren können, und dann wäre Van der Vyver mitsamt seinem Farmboy gestorben. Wenn Nachbarn sich über das Funksystem melden, um zu sagen, daß ihnen „diese Sache“ mit Van der Vyvers Boy leidtue, schwingt unausgesprochen der Satz mit: Es hätte schlimmer sein können.
Die Qualität und Ausstattung des Sarges läßt erkennen, daß der Farmer Geld für das Begräbnis zur Verfügung gestellt hat. Und ein aufwendiges Begräbnis bedeutet Schwarzen sehr viel; sparen sie sich doch zu Lebzeiten von dem Wenigen, das sie haben, die Zahlungen für ein Bestattungsinstitut ab, um nicht in einem einfachen Sarg aus Buchsbaumholz in ein namenloses Grab gesenkt zu werden. Die junge Frau des Toten ist schwanger (natürlich), und unter ihrem gewölbten Bauch drückt sich ein kleiner Junge mit roten Schuhen, die ihm um einige Nummern zu groß sind, an sie. Er ist zu jung, um zu verstehen, was geschehen ist, was er an diesem Tag sieht, aber er quengelt nicht und spielt nicht herum; er ist sehr ernst, ohne zu wissen warum. Die Schwarzen halten kleine Kinder von nichts fern, sie ersparen ihnen den Anblick von Angst und Schmerz nicht, wie die Weißen das mit ihren Kindern tun. Die junge Frau ist diejenige, die weint wie ein Kind, den Kopf hin und her wirft und an der Brust des einen oder anderen Verwandten schluchzt.
Alle Anwesenden arbeiten für Van der Vyver oder sind Angehörige derjenigen, die für ihn arbeiten; und in der Jahreszeit, wenn gejätet oder geerntet wird, arbeiten auch die Frauen und Kinder für ihn. Ein Lastwagen bringt sie, singend und in ihre Tücher gehüllt, bei Sonnenaufgang auf die Felder hinaus. Die Mutter des Toten kann nicht viel älter als Ende dreißig sein (sie fangen schon in der Pubertät mit dem Kinderkriegen an), aber sie wirkt wie eine schwere, reife Frau, wie sie da in ihrem schwarzen Kleid zwischen ihren Eltern steht, die bereits für den alten Van der Vyver gearbeitet haben, als Marais und ihre Tochter noch Kinder waren. Die Eltern halten sie, als wäre sie eine Gefangene oder Verrückte, die gebändigt werden muß. Aber sie sagt nichts, tut nichts. Sie blickt nicht auf; sie blickt Van der Vyver nicht an, dessen Gewehr in dem Lastwagen losging, sie starrt auf das Grab. Nichts kann sie dazu bringen aufzublicken; er braucht keine Angst zu haben, daß sie aufblicken, ihn ansehen könnte. Neben ihm steht seine Frau Alida. Um den nötigen Respekt zu zeigen, wie für jedes weiße Begräbnis auch, hat sie den Hut in Marineblau und Beige aufgesetzt, den sie in diesem Sommer zum Kirchgang trägt. Sie steht ihm immer zur Seite, auch wenn er es nicht zu bemerken scheint; diese Kälte und Distanz — seine Mutter sagt, er hat sich schon als Kind schwer an andere angeschlossen —, sie akzeptiert das für sich persönlich, aber sie bedauert, daß seine Partei ihn deshalb nicht, wie es hätte sein sollen, als Kandidat des Distrikts für einen Parlamentssitz aufgestellt hat. Er vermeidet es, von ihrer Kleidung oder der anderer Umstehender berührt zu werden. Auch er starrt auf das Grab. Die Mutter des Toten und er starren auf das Grab, in einer Weise miteinander verbunden, wie der Schwarze auf dem Wagen und der Weiße im Fahrerhaus miteinander verbunden waren, in dem Moment, bevor der Schuß fiel.
Der Moment, bevor der Schuß fiel, war ein Moment hoher Erregung, den der junge Schwarze auf der Ladefläche mit dem weißen Farmer in dem Wagen durch das Dach des Fahrerhauses hindurch teilte, durch welches sich gleich darauf die Kugel bohren sollte. Es gab solche unerklärlichen Augenblicke zwischen ihnen, obwohl der Farmer auf seinem Grundstück oft an dem jungen Mann vorüberging, ohne seinen Gruß zu erwidern, als erkennte er ihn nicht. Als der Schuß sich löste, sah Van der Vyver den Kudu stolpern und vom Knall erschreckt davongaloppieren. Dann hörte er das Poltern hinter sich, schaute durchs Fenster und sah den jungen Mann aus dem Wagen fallen. Sicher war er aufgesprungen und hinuntergepurzelt — vor Schreck, wie der Bock. Der Farmer lachte fast auf vor Erleichterung, bereit, den Jungen aufzuziehen, als er die Tür öffnete; es schien unmöglich, daß eine Kugel, die durchs Dach gegangen war, etwas angerichtet haben konnte.
Der junge Mann lachte nicht mit ihm über seinen eigenen Schreck. Der Farmer trug ihn in den Armen zum Wagen. Er war sich sicher, daß er nicht tot sein konnte. Aber das Blut des jungen Schwarzen floß ihm über die Kleider und sickerte ihm während des Fahrens durch bis auf die Haut.
Wie werden sie es je wissen, wenn sie die Zeitungsausschnitte ablegen, das Protokoll, das Beweismaterial, wenn sie sich die Fotos anschauen und sein Gesicht sehen — schuldig! schuldig! sie haben recht! — wie werden sie es je wissen, wenn die Polizeiwachen niederbrennen mit all den Beweisen für das, was geschehen ist, und dem, was das Gesetz in der Vergangenheit zum Verbrechen erklärte. Wie können sie wissen, daß sie nichts wissen. Gar nichts. Der junge Schwarze, der auf grausame Weise durch die Nachlässigkeit des weißen Mannes erschossen wurde, war nicht der Boy des Farmers; er war sein Sohn.
Vorabdruck aus dem Erzählungsband Die endgültige Safari , der im Februar 1992 beim S. Fischer Verlag, Frankfurt, erscheint. Aus dem Englischen von Regine Laudann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen