: Marsch der Elendskinder nach Berlin
■ Die Zahl minderjähriger, alleinstehender Asylbewerber steigt rapide an/ Nicht genügend Unterkünfte vorhanden/ Senat legt Betreuungskonzept vor/ 200 neue Plätze zur Erstunterbringung geplant
Berlin. Sie kommen oft zu Fuß, manchmal mit der Bahn, selten mit dem Flugzeug — die minderjährigen, alleinstehenden Asylbewerber. Seit der Grenzöffnung sind es jeden Monat 50 bis 80 Personen zwischen 14 und 17 Jahren, die hier Sicherheit und Schutz vor Bürgerkrieg, Hunger und Katastrophen suchen. Die meisten von ihnen, sagte Jugendsenator Krüger (SPD) auf einer Pressekonferenz am Dienstag, flohen auf abenteuerlichen Wegen aus Osteuropa, vor allem aus Rumänien. Oft sind sie wochenlang zu Fuß unterwegs nach Bukarest, würden dann mit dem Zug durch Polen und die Tschechoslowakei fahren und ab dem Erzgebirge widerum zu Fuß »über die grüne Grenze« laufen, Richtung Berlin. Hier kommen sie dann an, erschöpft und oft krank. Genügend geeignete Unterkünfte gibt es jedoch nicht.
Von August 1989 bis April 1991 sei die Zahl der minderjährigen Asylbewerber von 497 auf 1.061 gestiegen, sagte Krüger. Eine Zahl, die das Deutsche Rote Kreuz und das Diakonische Werk für untertrieben halten, denn auf einer Fachtagung vor knapp zwei Monaten wurde die Zahl dieser jugendlichen Alleinreisenden auf mindestens 1.450 geschätzt. Unstreitig ist aber, daß die Kapazitäten der vom Senat betriebenen drei Einrichtungen mit 150 Plätzen schon lange erschöpft sind und daß der einzige Ausweg oft die sogenannten »Läusepensionen« sind.
Der Senat hat deshalb ein Betreuungs- und Unterbringungskonzept beschlossen. Analog dem für Erwachsene tätigen Landesamt für zentrale soziale Aufgaben soll die Zuständigkeit für die Unterbringung und Betreuung minderjähriger Aslybewerber bei der Senatsverwaltung für Jugend und Familie zentralisiert werden. Diese will ab Januar 1992 zusammen mit freien Trägern 200 Plätze in zentralen und altersdifferenzierten Erstaufnahmeheimen mit Clearing-Funktionen schaffen. Hier sollen die Jugendlichen während der Aufnahmeverfahren, die in der Regel sechs Wochen dauern, betreut werden. Dafür stockt der Senat die Mittel um 3,9 Millionen Mark auf insgesamt 6,4 Millionen Mark auf.
Zu den Clearingsaufgaben gehören, wie Krüger erläuterte, psychosoziale Diagnosen, die Klärung der erzieherischen Schul- und Ausbildungsverfahren, die Vorbereitung der anschließenden Unterbringung und die Suche nach Familienangehörigen sowie eine intensive Rückkehrberatung. Die Bezirke werden künftig nur noch für solche Minderjährigen zuständig sein, denen Berlin als Aufenthaltsort für die Dauer des Asylverfahrens zugewiesen wurde. In Vorbereitung sei, so Krüger, darüber hinaus ein sogenanntes »sleep in«, wo Minderjährige, also nicht nur Asylbewerber, die ersten Nächte in der Stadt verbringen können, bevor die weitere Betreuung einsetzt. Diese Schlafstätte soll demnächst in Treptow eingerichtet werden. aku
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