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Bonner Apokalypso

Uraufführungen von Wisniewski und Koltès beim Schauspiel Bonn  ■ Von Gerhard Preußer

Totensonntag in Bonn: auf eine polnische Sintflut am Vorabend folgt der französische Kulturzerfall. Beim Schauspiel Bonn feiert man das Ende der nationalen Zentralfunktion als Beginn der supranationalen Kulturdrehscheibe. Vorbei sind die Zeiten, da das Bonner Theater unter Intendant Peter Eschberg glaubte, sich an deutscher Identität abarbeiten zu müssen. Wenn schon Untergang, dann mit internationalem Renommee, heißt es heute. Manfred Beilharz, der neue Intendant, hat große Pläne: eine internationale Biennale des Schauspiels, internationale Gastregisseure, internationale Uraufführungen.

Der erste ausländische Gastregisseur ist Janusz Wisniewski, Leiter einer experimentellen Bühne in Warschau und erfahrener Festivalgast in ganz Europa. Wisniewski inszeniert zum zweiten Mal an einem deutschen Theater und ist noch immer überrascht vom Reichtum der Theater hier. „Man kann sich einen rosa Elefanten wünschen, und er wird geliefert.“ In Polen dagegen kann der Staat nur noch 30 statt früher 70 Theater finanzieren. Dort sind die Theater tatsächlich jenem „wölfischen Kapitalismus“ in die Hände gefallen, vor dem sich ihre Kollegen aus der Ex-DDR heute noch fürchten.

Wisniewskis Theater mag finanziell arm sein, an ästhetischen Mitteln ist es reich. Alle Techniken des nichtliterarischen Theaters werden genutzt: Puppen, Masken, Tanz, Musik. So vielfältig die Mittel, so schlicht ist die Botschaft: O Mensch, bedenke dein Ende und tue das Gute. Theater, so meint Wisniewski, soll die einfachen Wahrheiten möglichst wirkungsvoll verkünden. So entsteht ein Stil, der dem entspricht, was der Protestant für katholisch hält: zugleich sinnlich und streng.

Das für Bonn konzipierte Stück erzählt mit Hilfe von Zitaten aus den biblischen Psalmen, Hölderlin und Rilke eine einfache Geschichte: ein Matrose verweigert in einem Sturm von apokalyptischer Stärke seinem Kameraden die Hilfe, der Tod hält seine Hand fest. Erst der Engel des Lebens führt dem Matrosen die Hand zur Rettung seines Mitmenschen. Die verlassene Frau des Matrosen will ihr ungeborenes Kind abtreiben, doch der Erzengel rettet auch dieses Leben. „Wer treibt mit uns da seinen Spaß? Schön ist das Leben, gut ist es auch“, predigt der gerettete Matrose in einem der erbaulichen Couplets. „Ein kleines Totenkarussell“ und „ein Requiem für die Ungeborenen“, nennt Wisniewski sein Werk.

Das Ganze wäre nur eine krude Mischung aus Morality Play und Musical, ein Erweckungsspektakel mit anachronistischen Mitteln, wäre da nicht die surrealistische Bildersprache und wäre da nicht das Tempo und die Intensität des Spiels. In nur einer Stunde wirbelt dieses rasende Panoptikum von Himmel, Hölle, Sintflut und Errettung an uns vorbei. Die triviale elektronische Musik hämmert uns Rhythmen ein, ein vieldeutiges Bild reiht sich an das andere: ein brennendes Skelett, ein Wald von Kreuzen, ein Haufen Kinderpuppen, ein Schachspiel zwischen Kind und Tod. Das marionettenhafte Spiel fordert von den Schauspielern Präsenz in jeder Sekunde. Dabei werden die Grenzen des Bonner Ensembles deutlich, auch die stimmlichen.

Beim zweiten Bonner Premierenabend hat Gevatter Tod dann offensichtlich einen erwischt. Die steife Leiche wird auf die Bühne getragen, ein Heer von Dienstboten stürmt herein und bejammert pflichtgemäß laut klagend ihren Herrn. Die Witwe tritt auf und scheucht die Domestiken zurück in ihre winzige Kammer am Bühnenrand. Dies ist der Anfang eines Theaterabends, der dem vorangehenden an Intensität in nichts nachsteht und dessen Botschaft ungleich komplexer ist.

Bernard-Marie Koltès' frühes Stück wurde bisher nur 1972 als Hörspiel gesendet, doch nie aufgeführt. Seine Motive ähneln denen seines späteren Stückes Rückkehr in die Wüste: Eine bürgerliche Familie zerfällt im internen Streit und ist gleichzeitig von einer äußeren, anonymen Gefahr bedroht. Das Familienoberhaupt ist tot, und der Erbe weigert sich, die ihm zugedachte Rolle zu spielen. Pahiquial, der Sohn (Matthias Herrmann), weiß nicht, was er will. Seine Freundin Thérèse (Sandra Flubacher) verläßt das Haus, schließt sich irgendeiner aufständischen Bewegung an und kehrt tödlich verwundet zurück. Pahiquial aber bleibt im Haus, verstrickt in den Kampf mit seiner Mutter (Susanne Tremper).

Die Handlung erschöpft sich noch mehr als in Koltès' späteren Stücken in vagen Andeutungen. Die Dialoge dehnen sich zu Monologen, die ein Thema umkreisen, ohne direkten Bezug zur Situation. Valentin Jekers Inszenierung versucht nicht, diesem poetischen Rätselwerk Klarheit abzugewinnen, sondern ergänzt die lyrische Sprache durch verstörende Bilder. Als Thérèse das Haus verlassen will, kommt sie mit einem Strick um den Leib auf die Bühne, schlingt das Seil um das Mobiliar, zurrt sich selbst fest und entwindet sich dann doch der eigenen Fesselung, kriecht mühsam, flach liegend die Stufen zur Mauer am Bühnenrand hoch, setzt an zum Sprung, als ein Schuß fällt. Pahiquial kommt hinter einem blühenden Zweig hervor. Erst jetzt erkennt er sie. Nichts von dieser Szene steht in Koltès' Text, doch stellt sie eine adäquate optische Ergänzung seiner vieldeutigen Sprache dar.

Nur die anonyme Bedrohung erhält in der Bonner Inszenierung deutlichere Konturen. Die Dienstboten werden schrittweise arabisiert. Zunächst trägt einer ein eingeschmuggeltes arabisches Tuch um den Hals, dann hat einer einen Fez auf dem Kopf, schließlich tragen alle arabische Gewänder, und ganz am Ende steht die Masse der Fremden auf der Gartenmauer und überflutet das Haus. Die unterdrückte Mehrheit von draußen, verbündet mit den Unterdrückten drinnen, erobert das herrenlos gewordene Haus. Der Sand der Wüste dringt in die Villa der ehemaligen Kolonialherren ein. Die Dritte Welt im Bündnis mit den Außenseitern der Industrienationen löst die zerfallende europäische Zivilisation auf. Doch dieser pathetisch-revolutionäre Schluß aus dem Geiste der 68er-Bewegung wird in Valentin Jekers Inszenierung ironisch gebrochen. Nachdem die Fellachen das europäische Haus erobert haben, stürzen sie in die Dienstbotenkammer, quetschen sich wieder in den engen Verschlag und starren auf einen Fernseher. Die Macht der Eroberer unterliegt der Macht des Mediums. Währenddessen steht draußen auf der Mauer Pahiquial, der Erbe: nackt, die Arme ausbreitend wie Roberto Zucco, der todgeweihte Held von Koltès letztem Theaterstück.

Aus tödlichen Untergängen werden in Bonn vitale Theaterereignisse. Das Bonner Schauspiel ist lebendiger denn je.

Janusz Wisniewski: Ankunft Quai Vier . Regie und Bühnenbild: Janusz Wisniewski, Musik: Jerzy Satanowski, mit Steffen Laube, Sven-Christian Habich, Nikolaus Haenel. Schauspiel Bonn (Kammerspiele). Weitere Vorstellungen: 22., 28.11.

Bernard-Marie Koltès: Das Erbe . Regie: Valentin Jeker, Bühne: Thomas Dreißigacker, mit Susanne Tremper, Sandra Flubacher, Eric Schneider, Mathias Hermann. Schauspiel Bonn (Werkstattbühne). Weitere Vorstellungen: 21., 22., 25., 26., 27., 29.11.

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