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Der Unmut wird auf Haase gelenkt

■ SPD-Parteitag diskutiert Arbeit der großen Koalition/ Ärger über unsoziale Sparpolitik/ Viele an der Basis »würden Neuwahlen in Kauf nehmen«, wollen öffentlich aber noch nicht darüber diskutieren

Berlin. Sage keiner, die Sozis hätten keine Ideen. Auf dem Landesparteitag der SPD, zu dem sich heute 320 Delegierte im ICC versammeln, haben auch unorthodoxe Forderungen eine Chance. Etwa der Antrag der Wilmersdorfer SPD, in U- und S- Bahn-Zügen den ersten Waggon für Frauen zu reservieren. Mutig, aber vergeblich werden sich die Jusos für die Legalisierung von Drogen einsetzen und die Wilmersdorfer Sozialdemokraten ihre Stimme für eine Abschaffung des Verfassungsschutzes erheben.

Die Parteiführung will zwei weniger konfliktträchtige Themen in den Mittelpunkt stellen: die Bezirkswahlen im Mai 1992 und vor allem die Forderung nach einem gemeinsamen Bundesland Berlin-Brandenburg. Die meisten Diskussionen werden jedoch, das erwarten alle Beteiligten, um die bisherige Arbeit der großen Koalition kreisen. Stärker noch als in der CDU sei die Unzufriedenheit an der SPD-Basis verbreitet, sagen einflußreiche Funktionäre. »Die große Mehrheit würde sogar Neuwahlen in Kauf nehmen.«

Eine Debatte über ein möglicherweise vorzeitiges Ende der großen Koalition, wie sie kürzlich der Parteilinke Harry Ristock angestoßen hatte, wird auf dem Parteitag trotzdem nicht erwartet. Viele Sozialdemokraten fragen sich dennoch, ob die Sparpolitik der Stadtregierung von ihnen »weiter mitgetragen werden kann«. Ein Schöneberger Delegierter sammelt Stimmen für einen Initiativantrag, der die Erhöhung der Pflichtstundenzahl von Lehrern mißbilligen soll. Die Privatisierung von Eigenbetrieben stößt bei den Sozis ebenso auf Widerstand, wie die von SPD-Wirtschaftssenator Norbert Meisner unterstützte Verlängerung der Ladenschlußzeiten.

Die Parteiführung will den Unmut auffangen, indem sie ihn auf den Lieblingsbuhmann der Sozialdemokraten lenkt, auf CDU-Verkehrssenator Herwig Haase. Sie empfiehlt die Annahme eines Antrags, der Haases »fortdauernde Versuche verurteilt, seine verkehrspolitische Konzeptionslosigkeit durch aktionistische Einzelmaßnahmen zu verdecken«. An der SPD-Basis werden die eigenen Senatoren von der Kritik jedoch nicht ausgenommen. Wirklich zufrieden, so lästern prominente Vertreter der Parteilinken, sei die Partei eigentlich nur mit Kultursenator Ulrich Roloff-Momin — der wurde zwar von der SPD nominiert, gehört ihr aber gar nicht an.

Auch ihren Landesvorsitzenden Momper werden die Delegierten vermutlich nicht verschonen. Er hatte sich kürzlich unter den Bezirksfunktionären seiner Partei viele Feinde gemacht, weil er zusammen mit Staffelt eine Verkleinerung der Bezirksämter und Bezirksverordnetenversammlungen gefordert hatte. Nachdem dieser Vorstoß zunächst am Widerstand der CDU gescheitert war, verspricht jetzt auch die Parteiführung in einer kommunalpolitischen Erklärung, sich im Rahmen einer »umfassenden Verwaltungsreform« für eine stärkere »Eigenständigkeit« der Bezirke einzusetzen. Deutlicher äußert sich der Spitzenkandidat der Kreuzberger SPD, Peter Strieder. Wenn man Bürgerbeteiligung ernst nehme, dürften die Bezirke »nicht länger nur Boten der schlechten Nachrichten« aus dem Senat werden, heißt es in einem Strieder-Antrag. Die Bezirke bräuchten deshalb mehr Rechte, dürften auch »durch die Hauptstadtplanung in ihren Kompetenzen nicht beschnitten« werden. Besser wäre die Ausweisung eines gesonderten »Regierungsgebietes« in der Innenstadt, in dem dann die Planungshoheit bei der Bundesregierung läge. hmt

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