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Ödipus von der Stange

„Mach's mir, ja!“ — ein verzappelter „Verbalkoitus“ als Uraufführung im Tübinger Gewächshaus LTT  ■ Christian Gampert

Kopfschmerz, laß nach! Oktoberföhn weht übers Land, so jedenfalls heißt das Stück von Philipp Engelmann, und macht uns allen schwer zu schaffen. Am meisten zweifellos den Schauspielern Maja Speth und Samuel Weiss am Tübinger Landestheater: Sie müssen das ausbaden und ausspielen, was ein geschwätziger Jungautor an vermeintlichen Dialogen zu Papier gebracht hat. Denn nur zwei Möglichkeiten gibt es angeblich, der herbstlichen, föhnbedingten Migräne zu entgehen: Yoga oder Sex. Autor Engelmann hat sich bedauerlicherweise für den Sex entschieden, das Theater kündigt sein erotisches Experiment vollmundig als „Verbalkoitus“ an und kommt gar nicht auf die Idee, daß ein schnellstmöglicher Interruptus die beste, die humanste Lösung dieser wahrhaft generationenübergreifenden Zweierkiste wäre.

Alter Mann mit junger Frau, das kennen wir schon, Curd Jürgens undsoweiter. Deshalb, so der einzige Einfall des Autors, probieren wir's mal andersrum. Denn wir alle kennen diese putzigen Anzeigen „42jährige mit Poona-Erfahrung sucht WG“ oder „Reife Frau braucht Bodybuilder“, und wir alle wissen, daß diese Emanzipationsmonster dann todsicher an einen pickligen Klassenprimus geraten und hernach frustriert im Frauenverband der FDP herumsitzen.

Und das ist ein Problem, das beredet werden will. Engelmann plaziert also einen verklemmten Jungmann (er liest gerade Salingers Der Fänger im Roggen) auf eine grüne Banke und läßt eine mittelalte Schreckschraube vorbeikommen, welche ohn' Unterlaß auf ihn einquasselt. Nach zwanzig Minuten sagt der Jüngling schüchtern „Können Sie mal ganz kurz die Klappe halten“, bleibt aber eisern sitzen. Nach einer Stunde dampft und zischt es im Treibhaus, wo dieser verschwiegene Treff stattfindet, sie rubbelt an ihm herum und er darf sie mit dem Fuß befriedigen. Und dann lädt sie ihn zum Abendessen ein.

Früher legte man solche dramatischen Ergüsse schamhaft in der Schublade ab, heute drängt so etwas gebieterisch ans Licht der Öffentlichkeit. Engelmann hat da keinerlei Hemmungen. Schließlich hat er großartige Erkenntnisse feilzubieten: „Das aufknospende und das verwelkende Leben hängen verdammt nah beieinander“, „Vögeln und Sterben gehören zusammen, das verschwimmt so ineinander“, „Das Gehirn ist ein kosmischer Spucknapf“ — na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Malou, die von der Midlife-crisis geschüttelte Männerfresserin, darf sich immer mehr zur sprücheklopfenden Stammtischschwester entwickeln: „Ich steh auf Gummi ohne Zucker“, erzählt sie völlig ungefragt, und rät: „Wenn Sie impotent sind, müssen Sie nur die richtigen Proteine schlucken.“ Außerdem ist sie „hundertprozentig für die Liebe, aber auch für die Sünde“. Kein Wunder, daß sich bei solch mütterlicher Fürsorge niemand freiwillig flachlegt, insbesondere kein „frisches Fleisch“.

Der am Tübinger Landestheater (mit einem auf jugendlich frisierten Amphytrion) ghanz passabel gestartete Regisseur Alexander Seer macht das Falscheste, was man mit diesem Unstück überhaupt tun kann: Er inszeniert all die kabarettistische Redseligkeit tatsächlich als Zweikampf, als Rede- und Schweige-Duell — und produziert damit eine unendliche Ödnis. Vom Ozonloch, über Aids bis zum Hurricane „Charly“ werden die wesentlichen Probleme dieser unserer Zeit durchgenommen. Statt den Verklemmungen und Pathologien der Figuren, ihrem Geheimnis hinter all dem Getue nachzuspüren, bietet der Regisseur eine Art Ödipus von der Stange.

Maja Speth gibt als Malou („Ich bin etwas sprunghaft im Denken“) ein hysterisches Weibchen, das die Becken-Streck-Bewegung gut trainiert hat. Sie schwatzt in einem fort, chargiert und outriert, und man glaubt ihr kein Wort. Samuel Weiss als ödipal gestrafter Musterschüler hat da den weitaus angenehmeren Part. Er sitzt zwar die ganze Zeit mit zusammengekniffenenen Beinen da, aber er läßt die forsche Anmachfrau auch konsequent ins Leere laufen. Das ist ja die Tragik solcher Beziehungen (und solcher Theaterstücke): Am Ende lacht sich der Mann ins Fäustchen.

Die Inszenierung schwänzelt zumeist auf dem Boulevard der billigen Pointen auf und ab, bisweilen plätschert ein Springbrunnen, und zweimal taucht ein seltsames Individuum auf, welches die erotisierenden Kräfte (und Säfte) der Natur beschwört. Wir sind ja im Gewächshaus. Doch auch hier: ist Shakespeares Puck — aus dem Sommernachtstraum — ein leichthändiger Geselle, so treffen wir ihn nun als riesenhaft-tumbes Urvieh mit kichernder Lache. Unser Liebespaar verfällt daraufhin, nach erwähnter Reflexzonen-Fußmassage, in orgiastische Zuckungen, „Jaaah, mach's mir“, das Theater bebt, und wir blättern derweil im Programmheft und lesen dort allerlei lyrisches Gestammel von Engelmann, über solch wichtige Dinge wie das „lüsterne Knabenkraut“ oder das „konfuse Pubertätskräutlein“.

Theater als Talkshow und Turnverein, als Kunst der Konversation und Liebesertüchtigung: die lokalen Kritiker finden sowas ganz toll. Das Publikum lacht gequält. Und Malou klagt: „Wohin ich sehe, rohe Gewalt.“ Da hat sie recht: Theater muß wie Folter sein. Gute Nacht.

Landestheater Tübingen. Oktoberföhn. Regie: Alexander Seer. Bühne: Matthias Karch. Nächste Aufführungstermine: 6., 7., 11., 15. und 19.Dezember.

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