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Unwillkommene Wossis

■ Das Zusammenleben der ursprünglichen Bewohner des Bezirks Mitte mit ihren hinzugezogenen Nachbarn aus dem Westen gestaltet sich oft schwierig

Mitte. In Berlin-Mitte ist das Wohnen etwas Besonderes. Gewohnt — im eigentlichen Sinne des Wortes — wird nur im Scheunenviertel und rund um den Arkona- und Zionskirchplatz, oder allenfalls in dem schmalen Gürtel zwischen dem Zentrum und Kreuzberg. Nur dort, vor allem in den Altbauvierteln, werden die Bedürfnisse über das Schlafen und die Grundversorgung hinaus befriedigt. In DDR-Zeiten wohnten hier vor allem Leute, die in den umliegenden Institutionen zu tun hatten: Humboldt-Uni, Charité, Verlage, Theater, Verwaltungen. Außerdem ein Bodensatz von solchen, die nicht in die Neubaugebiete außerhalb ziehen konnten oder wollten.

Heute sieht es in der nördlichen Mitte ganz anders aus. Es gibt neue Bezugspunkte neben den alten, das Tacheles, eine Galerien- und Kneipenszene, besetzte Häuser, zum Teil mit speziellen künstlerischen und sozialen Zielsetzungen. Aufgebaut wurde die neue Mischkultur nicht nur von Ostdeutschen. In gleichem Maße haben Westberliner und Westdeutsche mitgearbeitet sowie Künstler aus England, Australien, Frankreich und anderen Ländern. Ferner ist Mitte die erste Adresse für Westberliner, vor allem Studenten, die vom westlichen Wohnungsmarkt verdrängt wurden. Sie mieten sich in Ost-Berlin vergleichsweise billig ein. So bewohnt Regiestudentin Regina, 25, seit drei Monaten eine Zweizimmerwohnung in der Mulackstraße. Die Wohnung stand drei Jahre leer, bevor Regina die Tür aufbrach, die Wohnung besetzte und begann, Miete zu zahlen. Seither fühlt sie sich mehr und mehr heimisch in der schmalen Gasse mit den pittoresken Fassaden der vorigen Jahrhunderte. »Sogar einen Bioladen gibt es gegenüber.« Allerdings: »Ein anderer Mieter, der mitbekam, was ich machte, versuchte mir massiv Angst einzujagen.« Ein weiterer Ostberliner sei abends an ihre Tür gekommen und habe sie aufgefordert, »seine« Wohnung binnen 24 Stunden zu räumen. Extremfälle, meint Regina, begründet durch

Angst vor den Westeinwanderern (neudeutsch: Wossis).

Selbst ein Weststudent, der einige hundert Mark neben seinem Bafög verdient, ist für Ostberliner Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen eine mindestens gleichstarke Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt. »Die Westberliner, die ich kennengelernt habe, sind fast alle Geldhaie. Jeder auf seine Art und im kleinen. Ich dagegen baue unbelehrbar auf die alte ostdeutsche Hilfsbereitschaft.« Simone, die sich in einem Krankenhaus umschulen läßt, wohnt in einem mehrheitlich von Ostberlinern besetzten Haus in der Lottumstraße. »Zum Beispiel unser Besetzercafé: Die Wessis haben die Leitung an sich gerissen, alles wurde funktional organisiert, und was war? Das Café hat zugemacht; niemand hat sich mehr verantwortlich und motiviert gefühlt.« Ihr Freund Michael, der zusammen mit zwei anderen Ostberlinern eine WG in der Krausnickstraße bildet, fügt hinzu: Nach seiner Erfahrung interessierten sich die Westimmigranten weder für die Werte ihrer neuen Nachbarn noch für die gemeinsamen Belange. Jeder sei sich selbst der Nächste. Michael versucht in seiner Freizeit diesem Trend entgegenzusteuern, indem er einen kirchlichen Jugendtreff betreut. Er gehört zu denjenigen, die ihre Ideale aus der Wendezeit nicht verdrängen, »obwohl vieles leider keine Chance mehr hat«. Aber der Toningenieur aus dem Westen, der — illegal — im Parterre fünf Zimmer allein bewohnt, während Michael im WG-Wohnzimmer auf der Couch schläft, könnte ja wenigstens im Hausflur zurückgrüßen.

»Mir ist die Gemeinschaftshudelei der Ostler zuviel. Sie erdrückt mich manchmal regelrecht. Und möchte ich wirklich jemanden kennenlernen, bloß um nicht zu hören: Die Westler sind ignorant?« Sonja, 21, aus Düsseldorf, arbeitet in einem Café an der Oranienburger Straße und wohnt ein paar Blocks entfernt. »Da wird im ‘offenen Gespräch‚ gern mal über Abwesende gelästert. Ich finde, die Ostler sollten sich selbst nicht zu ernst nehmen.« Immerhin findet Sonja, daß »die uns Westler hier sehr freundlich aufnehmen, alles in allem«. Deshalb will sie in Mitte wohnen bleiben. Ihre Eltern sollen sich sogar für den Kauf einer Eigentumswohnung im Scheunenviertel interessieren.

Dagmar, 32, die in Mitte geboren ist, hält solche Nachbarn aus dem Westen für »engstirnig, bürgerlich und langweilig«. Für Westler gebe es nur drei Themen: »Erstens haben, zweitens haben, drittens haben.« Obwohl Menschen aus Ost und West so nah beieinander leben, haben sie oft nur minimalen Kontakt zueinander. Wenn etwa auf einer Party beide Seiten zusammentreffen, kann zum Beispiel passieren, was Peter, 24, aus der Krausnickstraße erlebte. Als sein Smalltalk-Partner aus Sachsen erfuhr, daß Peter aus Bayern stamme, mochte er die Konversation »jetzt lieber abbrechen«. Er sei ja auch kein Verteidiger des alten Systems, aber über Westdeutsche könne er »eigentlich nur meckern« — sprach's und wandte sich ab. Für Peter ist der Umzug nach Mitte »ganz normal«. Wenn er von Wedding nach Neukölln ziehe, mache er »ja auch kein Aufhebens davon«. Nur multikulturelles Miteinander fehlt dem Ex-Weddinger in Mitte. Kein türkischer Laden oder Imbiß sei zu finden — »nur ein Deutscher, der einen miserablen Döner anbietet.« »Öde« sei das. Wenn man aber weiß, daß Ausländer zum Beispiel von Gästen des Lokals »Sophien-Eck« schon mal mit »Sieg Heil« begrüßt werden oder daß die Wohnungsbaugesellschaft Mitte einen Deutsch-Peruaner mit der Begründung abwies, die Ausländer mit ihren seltsamen Eigenarten wolle man nicht in den Häusern haben, versteht man, warum Ausländer ihre westdeutschen Mitbürger lieber mit den Ostdeutschen allein lassen.

»Manches lernen« müßten seine Nachbarn, Ostler wie Westler, grübelt Ingo, 22, der die Stadtteilzeitung 'Scheinschlag‘ redigiert. »Vor allem eins: das abzulegen, was Wolf Biermann die ‘Breitärschigkeit meiner Landsleute‚ genannt hat«. Konstantin Breyer.

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