Großer Moment für kleine Akrobaten

■ Nach vier Monaten wird im Schöneberger Juxirkus wieder geprobt/ Brandstifter hatten im Juli das Zelt abgebrannt/ Seit 1987 toben sich hier nach der Schule zirkusbegeisterte Kinder aus/ Selbst Sportlehrer staunen, wozu die Kids fähig sind

Schöneberg. »Partnerwechsel! Und noch einmal! Und drehen!« Man glaubt es kaum. Zur Walzermusik aus dem Ghetto-Blaster in der Ecke, die ständig von Bohrmaschinen und Gehämmere übertönt wird, tanzen sechs Kinder auf dem Einrad durch ein frisch gestrichenes Zelt. Hurra, der Juxirkus ist wieder da. Nach viermonatiger Zwangspause wegen Brandstiftung (das Zelt war im Juli von Unbekannten abgebrannt worden) wurde am Montag in dem neuen rot-grünen Zelt an der Schöneberger Hohenstaufenstraße zum ersten Mal wieder geprobt.

Noch bleibt einiges zu tun: Das Kassenhäuschen steht ziemlich wackelig, der Gang zur Toilette wird gerade gestrichen und die Heizung muckt auch noch. Aber alle Beteiligten, Kinder, Eltern und Mitarbeiter, sind guter Dinge. Am 15. Dezember wollen sie mit einem neuen Programm auf den Zirkusbrettern stehen und ihre erste Wintervorstellung geben.

Seit vier Jahren gibt es das Schöneberger Kinderzirkusprojekt, das vom Nachbarschaftsheim Schöneberg für sogenannte Lückekinder, die zu groß für den Hort und zu klein fürs Jugendfreizeitheim sind, ins Leben gerufen wurde. Zehn bis fünzehn Jahre sind die Juxirkus-Kids in der Regel alt.

Die jüngste auf dem Einrad ist allerdings gerade mal neun Jahre alt. Wenn die kleine Anne aus dem Gleichgewicht kommt, hält sie der große Bruder fest. Der ist nämlich schon elf und nach zwei Jahren Einradeln schon fast ein Profi. Inzwischen fährt er mit dem Rad sogar zur Schule — zur Freude und zum Staunen aller Vorbeikommenden. Papi jedenfalls ist stolz auf seine Kids und immer kräftig dabei. Im Winter sollen die Einräder auch noch mit in den Skiurlaub. »Man muß seine Kinder doch an so etwas heranführen, sie für etwas begeistern«, sagt Papi. Deshalb ist er froh, daß es den Juxirkus gibt. Und darüber sind sich alle Anwesenden bei der Wiedereröffnungsfeier mit Glühwein und Keksen einig: »Es macht einen Heidenspaß.«

Montags bis freitags steht der Juxirkus täglich ab 14 Uhr jedem offen, der mitmachen oder zugucken will. Für die Aktiven gibt es ein richtiges Programm mit festen Trainingszeiten: Einrad, Jonglieren, Hochseil, Trapez, Skateboard oder Rollschuhfahren, Step, Jazz oder Rap, Akrobatik — es ist fast für jeden was dabei. Zweimal wöchentlich finden die Vorstellungen in dem Zelt mit maximal 99 Zuschauern statt. Die Premiere ist immer proppenvoll — dann sitzen die Eltern auf den Bänken und fiebern mit ihren Kindern.

Aber auch sonst ist der Zirkus gut besucht. Die Ideen für das Programm kommen zum großen Teil von den kleinen Künstlern selber — ebenso wie die Entwürfe der Kostüme, die die zirkuseigene Schneiderin auf ABM-Basis näht.

Der Juxirkus ist kein konventioneller Zirkus, sondern verarbeitet auch viele Elemente aus der Kinderstraßenkultur — wie Skateboard und Rap. »Die Kinder sollen nicht nur das machen, was im Music television gezeigt wird«, erzählt Tanzlehrerin Claudia Lehmann. »Sie sollen vor allem entdecken, was sie selber wollen und können.« Claudia Lehmann rapt im Juxirkus mit einer Gruppe von Zehnjährigen. Nach einem ganz normalen Warm-up bringt sie auch Elemente aus Jazz, Ballett und afrikanischem Tanz ein — »die Kids müssen ja auch die Wurzeln kennenlernen«.

Die Schulprobleme, so Lehmann, seien im Juxirkus oft schnell vergessen. Statt auf Gespräche setzt man hier auf Erlebnispädagogik. »Das Ganze hat viel mit Abenteuer zu tun, es ist nicht ganz ungefährlich, die Kids können sich ausprobieren und selber was erleben.« Lampenfieber und feste Ziele auf dem Probenplan tun ein übriges, die Kinder zu fesseln. Viele legen hier plötzlich ganz andere Leistungen als in der Schule an der Tag: »Wir haben schon staunende Sportlehrer hier sitzen sehen, die ihre eigenen Schüler auf der Bühne nicht wiedererkannten«, erzählt Lehmann.

Für die meisten Kids ist der Juxirkus nicht das Sprungbrett für eine große Zirkuskarriere, sondern eine nette Abwechslung zum manchmal recht öden Schulleben. Das Engagement der Kids spricht für sich. Die 15jährige Michaela kommt fast täglich aus Tempelhof nach Schöneberg gefahren und verbringt ihre Zeit im Zirkuszelt: »Hier vertreibt man sich immer noch am besten die Langeweile«, erzählt sie. »Zu Hause ist ja auch nichts los.« Und auch Lutz, der schon 17 und eigentlich zu alt für den Kinderzirkus ist, läßt sich die Wiedereröffnung nicht entgehen, um mal wieder seine Jongliernummer zum besten zu geben. Es bleibt, was Mitarbeiter Achim Werner bei der Feier verkündete: »Die Bretter, die zwar nicht die Welt, aber doch schon ein Stückchen davon bedeuten...« Jeannette Goddar