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Die Stasi übernahm auch Wohlfahrtsfunktionen

■ »Plädoyer für die Wahrheit«: Zum Auftakt eines Workshops vom Wilmersdorfer Bezirksamt über Machtmißbrauch in der DDR berichteten Stasi-Funktionäre über ihre Arbeit/ Die »totale Überwachung« schien auch positive Seiten gehabt zu haben/ Ein Arzt wurde befördert, um seine Republikflucht zu verhindern

Wilmersdorf. Eine Stunde nachdem der Senator für Jugend und Familie Thomas Krüger (SPD) das Sozialsystem in der ehemaligen DDR als ein System »der totalitären Fürsorge, respektive totalen Überwachung«, beschrieben hatte, erhielt Günter Schachtschneider, ehemaliger Hauptmann der Staatssicherheit das Wort. Gegenüber Opfern dieses Systems wollte und sollte er bei einer Veranstaltung des Wilmersdorfer Bezirksamtes mit dem schönen Titel »Plädoyer für die Wahrheit — Machtmißbrauch in der DDR« Rechenschaft ablegen über sein »operatives« Leben. Schachtschneider war nicht irgendein kleiner Stasi-Fisch, sondern in der Abteilung XX jahrelang zuständig für die Überwachung des Berliner Gesundheitswesens.

Auf die Frage des Moderators, er solle doch mal konkret berichten, wie denn seine Arbeit ausgesehen habe, bestätigte er Krügers bitter vorgetragene Analyse der »totalen Fürsorge«. Allerdings brachte es Schachtschneider fertig, die Stasi regelrecht als Wohlfahrtseinrichtung darzustellen. So sei das berufliche und private Leben eines Arztes, der auf der Kippe zur Republikflucht gestanden habe, unter dem Aspekt ausspioniert worden, ob der Mann nicht vielleicht deshalb gehen wollte, weil er seit Jahren nicht befördert worden war. Wenn dieser Verdacht der Stasi sich durch eine intensive Überwachung bestätigte, dann, so sagte Schachtschneider, sei der Arzt, um die Republikflucht zu verhindern, eventuell zum Oberarzt befördert worden. Diese Darstellung der »totalen Fürsorge« konnte das Publikum, zum größten Teil Opfer des Wohlfahrtsstaates DDR, nur mit Gelächter quittieren. »Ich will die Stasi wiederhaben«, kommentierte eine Krankenschwester in der Charité, »dann werde ich endlich auch einmal befördert.« So geriet die Eröffnungsveranstaltung der noch bis Freitag laufenden Wilmersdorfer Werkstattgespräche über Sozialismus und DDR- Machtmißbrauch, zu einem Versuch der Täter, die Ehre der Stasi partiell zu retten — nicht nur von Schachtschneider, sondern auch von Horst Wittke, letzter Hauskommandant der Hauptabteilung Aufklärung und langjähriger Vertrauter des DDR- Spionagechefs Markus Wolf, und Manfred Riemenschneider, bis 1989 Politoffizier des elitären »Wachregiments Feliks Dzierzynski«. Alle frisierten bei konkreten Arbeitsbeschreibungen ihre Tätigkeit zu Wohlfahrtsmaßnahmen um. Und dies war höchst bemerkenswert, zumal sich hier ein Graben zwischen den unterschiedlichen Auffassungen von der Funktion der Stasi auftat, der auch in den seit längerem laufenden Opfer- und Tätergesprächen (mit den gleichen Personen) im Haus am Checkpoint Charlie eklatant wurde.

Die einstigen Repräsentanten des Stasi-Unterdrückungsapparates formulieren nämlich bei jeder öffentlichen Veranstaltung eloquent ihre Schuld, zu lange an Partei und Staat geglaubt zu haben, und wissen diese aus der eigenen Biographie auch gut zu begründen. Sie sind aber nie bereit, Details über die Anwerbungsversuche, über die Art und Weise der Nachrichtenzusammenstellung, über die Kollaboration vieler DDR- Bürger und über die konkreten Folgen, die die Stasi-Bespitzelung für ihre Opfer hatte, zu berichten. Hier gibt es eine Selbstzensur und eine Restloyalität gegenüber alten Kameraden, begründet auch durch den Fakt, daß hauptamtliche Stasi-Funktionäre sich vor den bundesdeutschen Gerichten zu verantworten haben und jedes Detail gegen sie ausgelegt werden könnte. Deshalb sind auch kosmetische Arbeitsplatzbeschreibungen, so wie sie im Jugendzentrum »Spirale« am Dienstag abend zu hören gewesen waren, wichtige Belege dafür, daß es mit dem Versuch von Stasi-Leuten, die Vergangenheit wahrhaftig und der Zukunft zur Lehre zu beschreiben, noch nicht so weit her ist. Aber daraus den Schluß zu ziehen, daß die Täter sich, wie es ein aufgebrachter Zuhörer unter Beifall formulierte, »schweigend in die zweite Reihe verziehen« sollten, wäre völlig falsch. Anita Kugler

Morgen 19 Uhr, Jugendzentrum »Spirale«, Westfälische Straße 16 A, Lieder mit Eric Udo Zschiesche und Bettina Wegner. Freitag ab 8 Uhr: Ehemalige politische Gefangene erzählen. 16 Uhr: Erzählwerkstatt mit ehemaligen Stasi-Mitarbeitern. 19 Uhr: Abschlußveranstaltung. Politisches Streitgespräch mit Ibrahim Böhme. Die Veranstaltungsreihe der Abteilung Jugendförderung des Bezirksamtes Wilmersorf in Zusammenarbeit mit dem Freien Deutschen Autorenverband richtet sich vor allem an Schulklassen aus Ost und West.

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