: „Der Geist des Nashornvogels“
■ Mythos und Zerstörung — Traumreise zu den Realitäten Borneos
In Marks gewöhnlichem niederländischem Alltag im platten Schwemmland schleichen sich sehr bizarre Ereignisse ein. Es beginnt damit, daß Mark die wunderliche Sammlung indonesischer Gegenstände seines geheimnisumwitterten Großvaters auspackt und aufstellt: Eine eigenartige Atmosphäre geht von ihnen aus, besonders von der einen großen, grellbunten Holzfigur. Ein seltsames Heulen und ein großer Vogel, den es gar nicht gibt, irritieren Mark endgültig. Doch als etwa ein halbes Jahr später ein Riesenvogel auf der Wiese landet, eine Treppe ausfährt und Mark mitnimmt auf eine Reise nach Indonesien, ist Mark aus dem Stadium des Wunderns hinaus. Er weiß, der Vogel ist der „Garuda“, der die Schlangen des Bösen bekämpft.
Den ersten Aufenthalt hat er auf der Insel Peucang, die sich in einem paradiesischen Urzustand befindet. Dann setzt ihn der Vogel auf Borneo ab, in der Nähe der Stadt Subu am Rajang-Fluß: im Land der Nashornvögel. Hier ist das Paradies schon vor langer Zeit zerstört worden. In Sibu und der noch kleineren Stadt Kapit erfährt Mark eine Menge über das Leben im heutigen Borneo: über das Zusammenleben der Chinesen, Malaien und Ibans, über die Schwierigkeiten und Konfliktpunkte. Dann fährt er mit dem Iban-Jungen Dolan und seinen Cousins zu deren Landhaus im Urwald zum jährlichen Gawai Dayak. Und nachdem er Unmengen gegessen und getrunken hat, darf er sich endlich zu Dolans Großvater Lintong setzen, der ihm von früher erzählt, alles, was er über den Nashornvogel weiß. Es ist seine eigene Lebensgeschichte, die bestimmt ist von der Überfremdung durch Niederländer und Engländer, Japaner und Malaien. Die Kultur und die Religion der Ibans wurden über Jahrzehnte zerstört, und die Zerstörung ihrer Lebensweise bedeutete gleichzeitig die Zerstörung ihrer Umwelt.
Das Geld für all die Dinge, die sie früher nicht brauchten, verdienen die Ibans durch das Abholzen ihrer Wälder und das Fördern ihres Öls — für die europäischen, japanischen und amerikanischen Herren. Borneo blutet. Und der weiße alte Mann, „Kleiner Stern“, der vor vielen Jahren zu den Ibans kam, kann nicht sterben, bevor er nicht einem aus seinem früheren Volk davon erzählt hat. Deshalb hat Lintong zum allerletzten Mal den Geist des Nashornvogels angerufen, damit jemand kommt, der „Kleiner Stern“ sterben lassen kann.
Für seine niederländische Außenwelt war Mark während seiner Innenweltreise wochenlang verschwunden. Als er wieder auftaucht, fragt er seinen Vater: „Würdest du es schlimm finden, wenn ich die Welt ein bißchen verbessere?“
Guus Kuijer hat diese Geschichte faszinierend spannend erzählt und meisterhaft konstruiert. Er baut ein Szenario wie für einen modernen Phantasieroman auf und bricht es gleichzeitig ironisch, besonders in der Figur des Vaters, der versucht, alle Ereignisse vernünftig zu klären. Er schildert Marks Erlebnisse auf Peucang und Borneo ganz realistisch, läßt die Mythen der Iban in der langen Erzählung von Großvater Lintong aufleben und läßt es offen, ob „Kleiner Stern“ sein Großvater war oder ob Lintongs große Liebe mit Yvonnes Großmutter identisch ist. Köstlich sind die vielen Alltagsszenen, in denen Kuijer mit trockenem Humor eine Situationskomik erstellt, die die Dinge auf den Punkt bringt. Ein wunderschönes, spannendes, überzeugendes und emotional ansprechendes Buch, literarisch ausgefeilt, das dennoch viele Informationen und eine wichtige Botschaft übermittelt! Gabriela Wenke
Guus Kuijer: Im Land der Nashornvögel. Ravensburger Buchverlag 1991, 223 S., 24,80 DM
(ab 13 Jahre)
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