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Niemand hat Mitleid

■ Die Oper „Fremde Erde“ in Bielefeld

Wieder einmal hatten die Theatermacher in Bielefeld ein gutes Näschen: Sie stöberten im Fundus der Partituren und stießen auf ein Stück, das die Aus- und Einwanderungsprobleme im 20.Jahrhundert verhandelt. Fremde Erde, 1930 an der Staatsoper Berlin unter der Leitung von Erich Kleiber uraufgeführt, führt das Schicksal armer Leute aus Litauen vor Augen und Ohren, die auf dem Zwischendeck nach Amerika fahren, um dort Haut und Arbeitskraft zu Markte zu tragen. In Litauen, bis 1917 unter zaristischer Herrschaft, veränderten sich die Lebensbedingungen der Kleingrundbesitzer wegen der Stolypinschen Agrarreform drastisch: Das Land wurde zersiedelt, ein Teil der kleinlandwirtschaftlichen Betriebe gesundete, ein größerer Teil der Landbevölkerung wurde zur Stadtflucht getrieben oder emigrierte. In den zwanziger Jahren lebte mehr als ein Drittel der Litauer in Übersee, vorwiegend in den USA und in Kanada.

Das Libretto von Kamilla Palffy- Waniek läßt ihre Auswanderer weiter südlich an Land gehen — irgendwo in der heißen Zone der Neuen Welt. Auf dem Schiff schon hatte die Minenbesitzerin Lean Branchista, die aus Europa auf ihre Besitzungen zurückreist, sich den kräftigen jungen Semjin ausersehen; sie läßt ihn durch ihren Agenten Rosenberg für gutes Geld anwerben. Aber er will nur mit seiner Anschutka und deren Vater Guranoff das neue Leben auf fremder Erde beginnen: „Nie vergess' ich, nie, Anschutka, dich und die Heimat.“ Mit Mme. Branchista und Anschutka treffen zwei Welten aufeinander — und Semjin gerät zwischen die Fronten. Als Wortführer der mit dem Mut der Verzweiflung vor die Villa der Reichen ziehenden Arbeiter tritt er im zweiten Akt herein. Die „Herrin der Hölle“ feuert ihren Einpeitscher Esteban, erhöht Semjin zum Prokuristen und Liebhaber. Doch, man ahnte es, das Glück ist nicht von Dauer.

Anschutka, die Kränkelnde, hält es unter der sengenden Sonne des Südens nicht aus — „Käme nur ein wenig Regen, ein paar Tropfen Regen; gleich wär' mir besser.“ Sie sehnt sich nach der Heimat; kann die Erinnerungen nicht loswerden und träumt davon, „mit nackten Füßen selig durch das Regenland“ zu gehen. Mit ihrem Vater versucht sie, wieder nach Litauen zurückzukommen. Der Weg geht über New York, dem Sehnsuchtsort der zwanziger Jahre: „Langsam tauchen die phantastischen Konturen der Wolkenkratzer auf.“ Semjin erscheint auf der Brücke. Um ihn ist Nacht. Die Lichter der Großstadt blitzen als ordentlich-chaotischer Kosmos. „In mir tiefste Nacht“, stöhnt der vom Glück Verlassene, „letzte Einsamkeit“ (er versinkt wieder in verzweifeltes Brüten). Der Chor (anrufend): „Fremde Erde!“

Der Text zu dieser Oper aus der Endphase der Weimarer Republik ist wohl kein Meisterstück — eine Rührgeschichte, welche Not und Arbeitslosigkeit, Aus- und Einwandererschicksal ebenso herausarbeitet wie das individuelle Leid der von ihrem Verlobten verlassenen Anschutka. Das rettende Schiff für die Rückreise war nicht zu bezahlen, das wenige Ersparte gestohlen worden, der Zerfall der Kräfte unaufhaltsam. Semjin hält Anschutka die Hand. Und dann kommt — welch ein Opernzufall — Rosenberg noch einmal des Wegs, bietet dem „Prachtbursch“ eine neue Arbeit an: „Kannst werden ein Millionär!“ (Ein paar Matrosen ziehen, den Yankee-doodle gröhlend, vorbei). Vorbei.

Karol Rathaus, 1895 in der Westukraine geboren und Anfang der zwanziger Jahre (zusammen mit seinem Kompositionslehrer Franz Schreker) aus Wien nach Berlin gekommen und später über Paris und London in die USA emigrierend, komponierte für Fremde Erde eine Partitur, in der sich so gut wie alle musikalischen Wege der zwanziger Jahre kreuzen. An Schreker angelehnt der Grundton; freilich schärfer gewürzt die Momente der Konfrontation; sehr lyrisch, „spätromantisch“ in die Breite fließend die Minuten der Liebesbezeugung; auch der Moon of Alabama scheint auf, überhaupt der Weillsche Sound — und wenn von der Heimat die Rede ist, dann finden sich die Streicher in fast choralfrommem vierstimmigem Satz zusammen. Der Bielefelder Oper-Oberspielleiter John Dew, auch diesmal wieder sein eigener Bühnenbildner (leider kein inspirierter), liebt Stücke dieses Zuschnitts. In bescheidenen Bildern erzählt er die traurige Geschichte von Anschutka, die herrischen Auftritte der Lean und das Schwanken des Semjin plan, naivisch: zum Zwecke der Anrührung. Die Rechnung ging auf: Das Bielefelder Publikum ließ sich derart über Blutleere und Bodenlosigkeit weg zur Ergriffenheit führen.

Das Bielefelder Musiktheater, das in den vergangenen Jahren häufig entschiedenen Kunstanspruch und politische Brisanz entwickelte, gebärdete sich zweieinhalb Stunden lang als moralische Bedürfnisanstalt: Es simulierte die „künstlerische Umsetzung“ eines (im Programmheft abgedruckten) Satzes des Weihbischofs Wilhelm Wöste aus Münster, daß „kaum einer von denen, die über die deutsche Grenze drängen, seine Heimat aus Übermut oder Leichtsinn verlassen“ habe. Nur eben ist die Verhandlung solcher Erkenntnis in den Kostümen der zwanziger Jahre und im Sonnenlicht Südamerikas oder vor dem Glitzerteppich New Yorks ein so wunderbar seichtes Samstagabend-Vergnügen wie der ARD-Flitterabend oder die ZDF-Pension Schöller, und John Dew ist jedes (un)ästhetische Mittel recht, für das als gut Erkannte zu wirken. Freilich wird die Ausländerfeindlichkeit in Bielefeld durch derart Gutgemeintes kaum gemildert werden. Denn an der manövriert das Stück wie die Inszenierung haarscharf vorbei: Niemand braucht in der Wirklichkeit Mitleid zu haben, wenn es bereits so kostengünstig im Theater vergossen wurde. Frieder Reininghaus

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