: Letzter Warnruf von Delors
■ Wenn Maastricht zum Waterloo wird, droht der Präsident der EG-Kommission mit Rücktritt/ Bundesregierung streut Optimismus
Bonn/Brüssel (dpa/afp/taz) — Wenige Tage vor Beginn des EG-Gipfeltreffens in Maastricht zeigen sich bei den Beteiligten nicht nur krasse Differenzen bei inhaltlichen Punkten, sondern auch bei der atmosphärischen Einstimmung. In Bonn ließ die Bundesregierung gestern Optimismus verbreiten und glaubt nun nicht mehr, daß der EG-Gipfel scheitern könnte. EG-Kommissionspräsident Jacques Delors dagegen kritisierte gestern die nach seiner Ansicht unpraktikablen Vorschläge zu einer gemeinsamen Außenpolitik und schloß für den Fall eines Scheiterns in Maastricht seinen Rücktritt nicht aus. Aus Belgien wird wiederum mit einem Veto gegen die Verträge zu einer umfassenden EG-Reform gedroht, falls in Maastricht als endgültiger Tagungsort für das Europaparlament Straßburg und nicht Brüssel festgeschrieben wird.
In den Vorschlägen zur Politischen Union ist vorgesehen, Mehrheitsentscheidungen nur in jeweils neu festzulegenden, untergeordneten Fragen der gemeinsamen Außenpolitik zuzulassen. Mit dieser Prozedur, so Delors, drohe bei jedem Problem eine lähmende Diskussionen darüber, in welchen Aspekten Entscheidungen mit Mehrheit oder einstimmig getroffen werden. „Dieser Text ist nicht anwendbar. Man kann nicht sagen, daß man eine gemeinsame Außenpolitik beginnt.“ Unverdrossen optimistisch gab sich dagegen Bundesaußenminister Genscher. Bei den Beratungen der Außen- und Finanzminister Anfang der Woche habe man in der Frage einer gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik einen Durchbruch errungen. Noch offene Fragen, vor allem das Problem von Mehrheitsentscheidungen in der künftigen EG-Außenpolitik, könnten in Maastricht geklärt werden. Im Verlauf der Bundestagsdebatte zum bevorstehenden EG-Gipfel erklärte Genscher gestern in Bonn, falls ein oder zwei Länder sich in Maastricht noch nicht zur Annahme von Mehrheitsentscheidungen durchringen könnten, sollten sich die anderen „entschlossen“ zu diesem Schritt bekennen.
Dabei verspricht bereits der erste Tag des Gipfeltreffens reichlich Konfliktstoff. Dann nämlich soll der Streit vor allem mit Großbritannien über ein „Ausstiegssrecht“ bei der Wirtschafts- und Währungsunion ausgeräumt werden. Bonn und weitere neun EG-Partner sind strikt dagegen, daß allen EG-Mitgliedern die Möglichkeit eingeräumt wird, aus der dritten Phase mit einer einheitlichen Währung aussteigen zu können. Dieses Recht soll allenfalls Großbritannien und Dänemark zugestanden werden, „um das ganze System nicht zu gefährden“.
Als weiterer Punkt könnte nach Ansicht von EG-Kommissionspräsident Delors die Sozialpolitik zu einem Scheitern von Maastricht führen. Großbritannien lehnt unter Hinweis auf drohende hohe Arbeitskosten die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in der gemeinsamen Sozialpolitik ab. Delors sieht darin aber eine „ideologische und politische“ Forderung, da selbst die ärmeren EG-Staaten bereit sind, soziale Mindeststandards mitzutragen. Würde den Briten erlaubt werden, aus der gemeinsamen Sozialpolitik auszuscheren, wäre dies ein „gefährlicher Präzedenzfall“.
Weniger Konfliktstoff erwartet man dagegen bei der Diskussion um die künftige Rolle der Westeuropäischen Union (WEU), die in Maastricht als integraler Bestandteil der künftigen europäischen Verteidigungspolitik festgeschrieben werden soll.
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