Es war einmal Pearl Harbor, als Japan...

Die japanische Erwachsenenwelt will von Pearl Harbor nichts mehr wissen  ■ Aus Tokio Georg Blume

Vor dem McDonald im Tokioter Vorort Jiyugaoka läuft den drei Mädchen schon das Wasser im Munde zusammen. Doch Hiromi, Sayo und Akane, drei Siebzehnjährige in straffer Matrosenjacke und für die Jahreszeit viel zu kurzem Rock, haben es nicht mehr eilig, wenn es denn um diesen unheimlichen Tag von vor fünfzig Jahren geht. „Wir wissen eben nicht viel“, gestehen sie ihr Interesse, „da hat nämlich Japan etwas Böses gemacht.“

Hiromi mit den kurzen Haaren sagt: „In den Schulbüchern steht darüber nur wenig.“ Die kleine Sayo ergänzt sofort: „Dort werden die Japaner immer nur als Opfer erwähnt.“ Akane aber, die eine große rote Brille trägt, faßt endlich alles zusammen: „Es ist doch doof, daß die Amerikaner immer nur über Pearl Harbor reden, und wir hier in Japan nur Hiroshima und Nagasaki bequatschen.“ Sagt es, dreht sich um und kauft sich erstmal einen Hamburger.

Doch Hiromi, Sayo und Akane können sich beschweren, so laut sie wollen — Antwort bekommen sie auch am 50. Jahrestages des legendären Sturmangriffs auf Pearl Harbor nicht. Ignorant übergehen die Erwachsenen in Japan alle Fragen nach der Vergangenheit.

Statt der „Schande“ ('Time‘) von damals zu gedenken, feiert das offizielle Japan die neue, nun angeblich gleichberechtigte Beziehung mit den USA. „Eine neue Phase gleichberechtigter Partnerschaft beginnt“, jubelt die führende japanische Wirtschaftszeitung 'Nihon Keizai‘ in einer Sonderbeilage zum Jahrestag von Pearl Harbor. „Die nächsten fünfzig Jahre können nun für Japan und die USA das Zeitalter der freundlichen Konkurrenz sein. Fast alle Medien berichteten zum Pearl- Harbor-Tag. Wer dabei doch einmal den Rückblick wagt, spricht lieber von den Amerikanern als über sich selbst: „Pearl Harbor“, sagt der Geschichtsprofessor Makoto Ikobe in der Tageszeitung 'Asahi Shinbun‘, „könnte für die Amerikaner zum Symbol für die Hinterhältigkeit der Japaner werden. Bleibt nur dieser Tag im Gedächnis, werden die Amerikaner uns nie vertrauen.

Die Sorge um die Fairneß der Amerikaner will die eigenen Gedächtnislücken umgehen. „Japan unternahm“, so lautet die typische Passage eines japanischen Geschichtsbuchs für Oberschüler, „einen Überraschungsangriff auf die US-Militärbasis Pearl Harbor und erklärte den USA und Großbritannien den Krieg. So begann der Pazifische Krieg.“ Derart kurz geschildert nimmt es kein Wunder, daß das Datum des 7.Dezembers den Japanern kaum in Erinnerung bleibt. Die zahlreiche ausländische Kritik an den Schulbuchtexten wehrt Regierungssprecher Taizo Watanabe mit schroffen Worten ab.

Freilich empören sich nicht nur US-Amerikaner gegen die japanischen Unterschlagungen. So meldete sich aus Anlaß der Pearl-Harbor-Debatte auch ein chinesischer Regierungssprecher zu Wort, der den japanischen Schulbehörden vorwarf, vollkommen unberechtigt den Kriegsbeginn auf den heutigen Tag von vor fünfzig Jahren zu datieren. Schließlich habe der pazifische Krieg gegen China schon zehn Jahre früher in der Mandschurei begonnen.

Wo soviel Ungesagtes in der Luft bleibt, schlägt die Stunde der Polemiker. So verging denn in Japan kein Tag im Vorfeld des 7.Dezembers, an dem nicht der rechtsradikale Rhetoriker Shintaro Ishihara sein Publikum mit neuen Angriffen auf die USA entzückte. Der landesweit populäre Ishihara, vormals Verkehrsminister, verwünscht alle Reue für den Krieg, den er lediglich „als Zusammenprall kolonialistischer Interessen“ beschreibt.

Demgegenüber haben sich die linken Parteien im japanischen Parlament dazu entschlossen, für einmal ihren traditionellen Anti-Amerikanismus zur Seite zu stellen. Sozialdemokraten und Kommunisten wol len den japanischen Abgeordneten in der nächsten Woche eine Friedensresolution vorlegen, mit der sich Japan bei allen betroffenen Ländern für seine Angriffskriege entschuldigt.

Die regierenden Liberaldemokraten sind damit in Verlegenheit gebracht. Da sie eine offizielle Entschuldigung gegenüber Washington ablehnen, mußte Außenminister Michio Watanabe in einem eiligst von ihm bestellten Interview in der 'Washington Post‘ am Mittwoch allen möglichen Mißverständnissen vorbeugen: „Wir haben tiefe Gewissensbisse“, beteuerte der japanische Außenminister nun auf einmal schuldbewußt, „aufgrund der unerträglichen Leiden und Sorgen, die Japan mit der verwegenen Entscheidung, den Krieg zu beginnen, über Amerika brachte.“ Unübersehbar aber blieb trotzdem, daß sich Premierminister Kiichi Miyazawa, der in Japan als großer Amerika-Kenner gilt, von solchen Bedauernsäußerungen öffentlich zurückhielt. Gestern hat es das japanische Parlament nun abgelehnt, die zum 50. Jahrestag des Angriffs auf Pearl Harbor angekündigte Resolution, mit der das japanische Parlament sein Bedauern für das damals zugefügte Leid ausdrücken wollte, zu verabschieden.

Den drei Schulmädchen in Jiyugaoka war das widersprüchliche Benehmen der Politiker freilich nicht aufgefallen. Aber noch mit Big Mac und Milkshake bewaffnet setzen Hiromi, Sayo und Akane ihre Debatte fort: „Meine Großeltern auf dem Land“, berichtet Sayo, „sind immer noch gegen die Amerikaner — wegen dem Reis, den die importieren wollen.“

Akane runzelt noch einmal die Stirn: „Wenn sich die Alten weiterhin soviel Unsinn erzählen, müssen wohl die Kinder mehr über die Geschichte lernen.“ So formuliert sie das Lernprogramm für die eigene Generation: ein bißchen Menschenverstand und die Wahrnehmung der anderen Seite. Hiromi, Sayo und Akane haben die Lektion von Pearl Harbor längst verstanden.