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Blut im glitzernden Schnee von Riga

An den „Blutsonntag von Riga“ und die Ermordung lettischer Juden vor 50 Jahren erinnerten zwei Zeitzeugen: der Jude Bernhard Press und Jürgen Ernst Kroeger, einst im Dienste der SS  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Die Hochmeisterkirche in Berlin war am vergangenen Donnerstag abend fast voll besetzt. Dennoch herrschte atemlose Stille. Etwa 250 Menschen hörten zwei alten Männern zu, die über die Ermordung der lettischen Juden in Riga, am 30. November und am 8. und 9. Dezember 1941, Zeugnis ablegten. Der eine, Bernhard Press, lettischer Jude, damals Medizinstudent und 24 Jahre alt, überlebte die blutigen Tage eines Zufalls wegen. Der andere, Jürgen Ernst Kroeger, Deutschbalte, damals 36 und gläubiger Nationalsozialist, war zu dieser Zeit Dolmetscher der dortigen Nachrichtenabteilung des SS-Sicherheitsdienstes.

Beide Männer, die sich früher nur als Opfer und Täter hätten treffen können, haben über diese Zeit des Terrors und Leidens ein Buch geschrieben und sich dadurch kennen- und — mehr noch — schätzengelernt. Gemeinsam und öffentlich berichteten sie in Berlin zum ersten Mal.

In der Nacht zum Rigaer „Blutsonntag“, dem 30. November 1941, räumte die SS einen Teil des jüdischen Ghettos, und das mit Hilfe lettischer Erschießungskommandos. Was in der Sprache der Nationalsozialisten „Aussiedelung“ hieß, bedeutete den Tod für über 15.000 Menschen. Alte, Kranke und Invaliden wurden in ihren Betten erschossen, Kinder von betrunkenen Nazi- Schergen aus den Fenstern geworfen, die Mehrheit wie Vieh über Kilometer hinweg bis in den Wald vom Rumbula gescheucht. Wer nicht schnell genug laufen konnte, den trafen Kolbenschläge oder der Schuß ins Genick. „Als am nächsten Morgen die Sonne aufging“, berichtete Bernhard Press, „glitzerte der gefallene Schnee. Es war ein wunderschöner kalter Tag geworden. Und man sah, so weit das Auge reichte, den Weg vom Ghetto zum Wäldchen mit Bündeln und Rucksäcken bedeckt. Dazwischen ein paar braune Flecken im Schnee. Blut.“

Bernhard Press und sein Vater überlebten diesen Tag, weil sie zum Arbeitseinsatz abkommandiert und nach ihrer Flucht zweieinhalb Jahre lang von einer lettischen Professorenfamilie versteckt wurden. Die Mutter aber starb im Wald von Rumbula. Hier hatten Soldaten Massengräber ausgehoben. Die Opfer mußten sich ausziehen, vor die Gruben stellen und ihre Kugel hinnehmen, während ständig neue Kolonnen eintrafen. Zwischen 8.15 Uhr und 19.45 Uhr, so ist es in den Dokumenten festgehalten, starben 15.000 Menschen. Eine Woche später, am 8. Dezember 1941, evakuierte die SS die andere Hälfte des Ghettos in den Tod. Es sollte freigeräumt werden für die Deportationszüge aus Berlin, Wien und vor allem Westfalen. Doch weil die ersten Züge zu früh in Riga ankamen und die neuen Konzentrationslager in Jungfernhof und Salaspils noch nicht fertiggestellt waren, wurden auch die Juden aus Deutschland an diesem Tag in den Wald getrieben und dort erschossen. Bis pünktlich 12 Uhr mittags fanden über 11.000 Juden den Tod.

Insgesamt, ergänzt Kroeger, seien von Ende 1941 bis Anfang 1942 im Wald von Rumbula und dem nahegelegenen Bikernieki um die 64.000 Menschen von der SS und lettischen Einsatzkommandos „exekutiert worden“. Im Panzerschrank seiner Nachrichtenabteilung lagerten die Berichte über diese „Sonderbehandlungen“ als „Geheime Reichssache“. Ein Freund, der sich aus Entsetzen freiwillig an die Ostfront meldete und dort starb, gab Kroeger am 8.Dezember einen Augenzeugenbericht: „Eine Unmenge bewaffneter lettischer Wachleute flankierte den endlosen Zug an die Gruben. Die Schüsse fallen ununterbrochen. Dort wo es knallt, steht sie, die Elite der SS. Aus ihren Manteltaschen ragen Kognacflaschen. Ihre Gesichter sind vor Anstrengung, vielleicht auch vor Stolz gerötet.“ Kroeger hat die Koffer der ermordeten, aus Deutschland ankommenden Juden gesehen. Im Hof seiner Dienststelle stapelten sie sich bis zum zweiten Stock.

Moderiert wurden die Berichte von Press und Kroeger behutsam von Hilde Schramm, Tochter von Albert Speer und Gründungsmitglied des Vereins „Deutsch-Sowjetische Kontakte“. Nur zögernd thematisierte sie, was besonders Bernhard Press so sehr schmerzt: Die engagierte Beteilung lettischer Schergen an der Ausrottung der jüdischen Bevölkerung. Hilde Schramm wollte die Schuld der Deutschen durch die Betonung der lettischen Kollaboration nicht schmälern, aber Kroeger insistierte, „die SS hat die Letten ihrer besseren Nerven wegen gerne eingesetzt“. Und Press sprach von dem Mantel des Schweigens, der auch in der jungen Demokratie Lettland über die Jahre 1941 bis 1944 gelegt werde. Die Jugend, sagte er, wisse nichts über die Ermordung der lettischen Juden, „die neuen Geschichtsbücher an den Schulen sind die alten von 1938“. Zwar habe der lettische Ministerpräsident bei den diesjährigen Gedenkfeierlichkeiten im Wald von Rumbula eine Mitschuld der Letten eingeräumt, aber hinzugefügt, man solle nicht vergessen, daß die Toten durch ihr begeistertes Empfangen der Sowjetokkupanten 1940 ihren Tod gewissermaßen selbst mitverschuldet hätten. „Das ist einmalig“, sagte Press, „daß ein Ministerpräsident den Ermordeten die Schuld an der eigenen Ermordung gab.“ Folgerichtig beurteilt Press daher die nationale Selbstbestimmung in Lettland sehr zwiespältig. „Wenn ein Volk die eigene Geschichte verdrängt und, schlimmer noch, leugnet“, meinte er, dann sei die Gefahr groß, daß die demokratischen Erneuerungsprozesse nur sehr oberflächlich und brüchig seien.

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