Das „gefürchtete S-Wort“ gestrichen

■ Großbritannien verweigert sich einer gemeinsamen europäischen Sozialpolitik

Die Sozialpolitik ist in Maastricht auf der Strecke geblieben. Nachdem der britische Premierminister John Major sich völlig unnachgiebig zeigte, wurden die entsprechenden Passagen aus den neuen EG-Verträgen gestrichen. Der niederländische EG- Ratspräsident Ruud Lubbers räumte ein, daß man letztlich „die Bedenken Großbritanniens gegen eine einheitliche Sozialpolitik der Gemeinschaft akzeptieren“ mußte. „Wir haben nicht nach einem komplizierten Kompromiß gesucht“, sagte Lubbers.

Major hatte behauptet, daß die angestrebte Sozialpolitik der Industrie gewaltige Kosten aufbürden und Arbeitsplätze vernichten würde. Das sei das genaue Gegenteil dessen, was Großbritannien wolle und die EG brauche, da dadurch die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Japan und den USA geschwächt würde. Einer seiner Berater fügte hinzu, daß man die Gemeinschaft davor bewahrt habe, „sich selbst in den Fuß zu schießen“.

Die anderen elf EG-Staaten wollen jedoch eine gemeinsame Sozialpolitik „in anderer Form“ entwickeln. Einzelheiten sind allerdings noch unklar, solange die juristischen Probleme in bezug auf die EG-Organe nicht ausgeräumt sind. „Unsere Partner mit unterschiedlichen sozialen Traditionen werden getrennte Schritte unternehmen, und sie werden auch dafür bezahlen“, prophezeite Major. Lubbers glaubt dagegen, daß die Außenseiterstellung Großbritanniens nur von kurzer Dauer sein wird.

Thatcheristische Flügel im Nacken

Woher Major den Optimismus nimmt, ist rätselhaft. Der britische Premier hatte bei den bilateralen Gesprächen im Vorfeld des Gipfels keinen Zweifel an seinem Standpunkt gelassen. Ihm sitzt noch immer der thatcheristische Flügel seiner Partei im Nacken, der es keinesfalls hinnehmen wird, daß die von Thatcher gebrochene Macht der Gewerkschaften durch die Hintertür der EG- Kommission wieder gestärkt wird — noch dazu unter Führung eines französischen Sozialisten.

Die schärfste Kritik an der britischen Haltung kam aus Frankreich. Für Präsident Mitterrand war es eine Frage prinzipieller Bedeutung: „Europa kann ohne eine Sozialcharta nicht existieren.“ Schließlich geht es darum, die Arbeiter in den EG-Ländern davon zu überzeugen, daß nicht nur Kapital und Industrie einseitig von der europäischen Integration profitieren werden.

Majors Pressesprecher Gus O'Connor behauptete, daß sich verschiedene EG-Länder hinter Großbritanniens Rücken versteckt haben. Bei Einzelgesprächen hätten sie deutlich gemacht, daß sie zwar den britischen Standpunkt teilten, jedoch der deutsch-französischen Achse nicht die Stirn bieten wollten. O'Connor nannte keine Namen, doch er meinte damit die Länder an der Peripherie — allen voran Irland. Der irische Regierungschef Charles Haughey betonte jedoch, daß man sich in der Kohäsionsdebatte nicht auf relative Armut berufen könne, um dann eine gemeinsame Politik zur Durchsetzung minimaler sozialer Standards zu verweigern.

Delors sagte gestern früh, daß die EG auf der Basis einer substantiellen Sozialpolitik weiterarbeiten könne. Dem widersprach jedoch die britische Regierung, die triumphierend bekanntgab, daß das „gefürchtete S-Wort“ in dem neuen Vertrag nicht vorkomme. Ralf Sotscheck